Riesling zum Abschied
auseinander und legte ein Blatt Papier mit einer handschriftlichen Aufstellung dazwischen. »Alles offene Fragen«, meinte er, »wenn wir die klären, haben wir den Fall gelöst, und Manuel ist draußen.«
»Ihr Optimismus ist grenzenlos ...«
»Muss er auch sein, Frau Dozentin, denn die Grenzen stecken andere. Von allen Seiten wird man bedrängt und eingemauert. Mein Vater sagt, dass nach sechzig Jahren Propaganda |329| für die Konkurrenz unter den Menschen in Deutschland ...«
»Lass mich trotzdem sehen, was du aufgeschrieben hast«, unterbrach ihn Johanna und sah in Thomas’ verdutztes Gesicht. »Was ist?«
»Äh – nichts. Hier ...« Er reichte ihr das Blatt. Sie las.
Wie kam der Riesling in unseren Kühlschrank?
Mit Alexandras Schlüssel
.
Wer hat den Auftrag zum Überfall erteilt?
Florian oder Vormwald?
Weshalb hat V. die Haftprüfung versaut?
Um den wahren Täter zu decken, er kennt ihn also
.
Wer hat den Kapuzen den Anwalt geschickt?
Der Auftraggeber des Überfalls.
Wer hat mich beobachten lassen?
Manuels Vater? Der Mörder?
Was hat der mit Vormwald zu tun, woher kennen sie sich?
Wer hat das Gerücht von mir und Johanna in Umlauf gebracht?
Florian – aber hat er es auch erfunden?
Wer hat meine Klausur geklaut?
Wer hat das Siegel an Alexandras Wohnung aufgebrochen?
Der Mörder.
Wozu?
Um Spuren zu beseitigen.
Wer hat Rechner u. Laptop geklaut, wenn die Polizei sie nicht hat?
Der Mörder ...
Wer ist auf dem Foto im Reitstall?
Keine Ahnung ...
Wen hat Johanna in Lorch mit Alexandra gesehen?
Wer ...
»Die Liste ist nicht komplett«, sagte Thomas. »Heute müssten wir zum Beispiel einfügen, wer Ihren Vortrag gelöscht hat.«
»Allerdings, und es fehlt die Schlüsselfrage: Warum wurde Alexandra ermordet? Ich hoffe, Sie haben diese Liste niemand anderem gezeigt.«
|330| »Nein, wieso?«
»Weil jetzt klar ist, dass Sie in Alexandras Wohnung waren. Vor oder nach dem Mord?«
»Au Schei ... – da habe ich nicht aufgepasst. Frage 9, nicht wahr?« Thomas kratzte sich ausgiebig am Kopf. »Natürlich vorher. Weil ich sie nicht leiden konnte, und weil ich schwul bin und mit Manuel was anfangen wollte, war sie mir im Weg, und dann habe ich sie mit dem Oscar erschlagen. Das wäre die Version für die Handtaschen und die Sensationspresse.«
»Wie gut, dass Sie Ihren Witz nicht verloren haben.«
»Das ist Galgenhumor.«
»Noch etwas finde ich bemerkenswert – nämlich dass Sie mich hier Johanna nennen und nicht Frau Breitenbach.«
»Sie haben mich eben auch geduzt.«
Das war zwar schlagfertig, es war ihm trotzdem peinlich. Johanna ging darüber hinweg und fühlte sich genauso verwirrt und auch zu ihm hingezogen. Sie fragte sich längst, weshalb ein gut aussehender und cleverer junger Mann wie er keine Freundin hatte, oder hielt er sie versteckt? War er wirklich ein Hagestolz, war ihm keine gut genug, oder schreckte er alle mit seiner Hyperaktivität ab? Gab es für ihn nichts anderes als seine Weinberge und das Studium? Menschenscheu war er nicht – es gab schließlich Manuel und Regine und seinen Vater, und bei den Winzern hatte sie ihn als umgänglich erlebt. Aber eine Freundin gehörte zum Leben, besonders in diesem Alter. Auch sie hatte in seinem Alter studiert, sie war in der Anti-Atomkraft-Bewegung und in einer Frauengruppe aktiv gewesen, da war Carl längst auf der Bildfläche erschienen, und für ihre Liebe hatten sie immer Zeit gefunden. Sie dachte an ihn und an das letzte Wochenende und an seinen nächsten Besuch und daran, was sie unternehmen konnten und wo sie zusammen hinfahren würden ...
»Sie sind weit weg, Frau Dozentin«, sagte Thomas, »wo sind Sie?«
|331| »Sehr weit weg, Thomas.« Johanna schüttelte die Gedanken ab und überflog die Liste noch einmal. Sie stutzte, dann erinnerte sie sich an einen sehr heißen Nachmittag. »Der Riesling aus Ihrer Küche, vom Altensteineck – der wurde beschlagnahmt? Weiß man etwas über den Mageninhalt des Opfers?«
»Es soll sich um genau den Wein handeln, ein Institut hat ihn untersucht. Der neue Anwalt ist da dran, denn Marquardt hat was mit der Untersuchung zu tun. Wieso fragen Sie?«
Sie erzählte Thomas ausführlich von ihren Begegnungen in Gigondas, dann ließ sie ihn erstaunt am Tisch zurück und brühte einen neuen Tee auf. Sie hatte noch einen sehr schönen Assam, einen First Flush, und es fanden sich in ihrem fast leeren Vorratsschrank noch ein paar nicht allzu harte Makronen, die sie Thomas nach Prüfung des
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