Rigor Mortis: Thriller Ein neuer Fall für Roy Grace (German Edition)
sicher.
Der Mann war klein und stämmig, hatte einen Kurzhaarschnitt, ein Dreifachkinn und tätowierte Handrücken. Er war nackt. Seine Kleider lagen auf dem Boden, als hätte er baden oder schwimmen wollen. Sein blauer Overall, die Socken und ein grünes Polohemd mit der Aufschrift ABERDEEN OCEAN FISHERIES lagen säuberlich zusammengefaltet neben seinen Arbeitsstiefeln. Seine Haut war stellenweise vom Rauch geschwärzt, und an seinem Kopf, im Gesicht und an den Händen hatten sich winzige Eiskristalle gesammelt. Er hing an einem der schweren Haken, dessen scharfe Spitze durch seinen Gaumen gedrungen und knapp unter dem linken Auge wieder ausgetreten war.
Am schlimmsten aber war der Gesichtsausdruck des Mannes – die hervorquellenden, entsetzten Augen.
Die eisige Luft roch stark nach Räucherfisch, aber auch nach Urin und Exkrementen. In einen der anderen Räucherschuppen war ebenfalls eingebrochen worden. Hatte man den armen Mann erst dort eingesperrt und dann hergebracht, damit ihm die Kälte den Rest gab?
Die Gerüche ließen ihn würgen. Er besann sich auf den Rat, den ihm ein Rechtsmediziner gegeben hatte, und atmete durch den Mund.
»Es wird dir nicht gefallen, was ich dir zu sagen habe, Roy«, sagte Tracy Stocker munter und scheinbar ungerührt.
»Mir gefällt auch nicht, was ich sehe. Wissen wir, wer er ist?«
»Ja, der Chef hier kennt ihn. Er ist Lkw-Fahrer. Kommt jede Woche von Aberdeen her. Schon seit Jahren.«
Grace starrte wie gebannt auf die Leiche. »Wurde er bereits identifiziert?«
»Noch nicht.Ein Notfallsanitäter ist unterwegs.«
So tot ein Opfer auch aussehen mochte, war es doch rechtlich vorgeschrieben, dass ein Notfallsanitäter dazukam und den offiziellen Totenschein ausstellte. Natürlich war er ohne jeden Zweifel tot. Toter sah man nur aus, wenn man sich im Krematorium in ein Häufchen Asche verwandelt hatte, dachte er zynisch.
»Kommt ein Rechtsmediziner?«
Sie nickte.
Er schaute noch einmal zu der Leiche. »Entschuldige bitte, aber ich gehe lieber raus, wenn sie den Haken entfernen.«
»Ich komme mit.«
Er lächelte grimmig.
»Wir haben da etwas, das wichtig sein könnte.«
»Und das wäre?«
»Laut Mr Harris, dem die Firma hier gehört, ist dies der Fahrer, der in den tödlichen Unfall auf der Portland Road verwickelt war. Stuart Ferguson.«
Grace schaute sie an. Bevor ihre Worte ganz zu ihm durchgedrungen waren, sprach sie weiter.
»Ich glaube, du musst ein bisschen näher herankommen, Roy. Ich möchte dir etwas zeigen.«
Tracy trat einige Schritte vor, und er folgte ihr. Dann drehte sie sich um und deutete auf die Innenwand, etwa dreißig Zentimeter oberhalb der Tür.
»Kommt dir das bekannt vor?«
Grace starrte auf den zylinderförmigen Gegenstand mit dem schimmernden Objektiv.
Wieder eine Kamera.
68
CARLY BEGRÜSSTE DIE FRAU, die ihr Büro betrat, mit einem Lächeln und bot ihr einen Platz an. Der Termin fand mit Verspätung statt, der ganze Tag war aus den Fugen geraten. Zumindest aber war es ihre letzte Mandantin, dachte sie erleichtert.
Die Frau hieß Angelina Goldsmith. Sie war Mutter dreier Teenager und hatte kürzlich entdeckt, dass ihr Mann, ein Architekt, seit zwanzig Jahren ein Doppelleben führte und im knapp fünfzig Kilometer entfernten Chichester eine zweite Familie hatte. Zwar hatte er die Frau nicht geheiratet und damit im rechtlichen Sinne keine Bigamie begangen, wohl aber in moralischer Hinsicht. Seine Ehefrau war am Boden zerstört.
Und sie hatte eine Anwältin verdient, die sich verdammt nochmal besser konzentrieren konnte als Carly in diesem Moment.
Angelina Goldsmith gehörte zu jenen vertrauensseligen, anständigen Menschen, die bis ins Mark getroffen werden, wenn ihr Mann sie verlässt und mit einer anderen Frau verschwindet. Sie war eine nett aussehende Brünette mit sanftem Wesen und guter Figur, die ihre Karriere als Geologin für die Familie aufgegeben hatte. Jetzt war ihr Selbstvertrauen zerstört, und sie brauchte dringend einen guten Rat.
Carly begegnete ihr mitfühlend und erklärte ihr die verschiedenen Möglichkeiten, die sich in ihrer Situation boten. Hoffentlich konnte sie ihr und den Kindern damit helfen.
Nachdem die Mandantin gegangen war, diktierte Carly ihrer Sekretärin Suzanne ein paar Notizen. Dann rief sie die Nachrichten ihrer Mandanten auf der Mailbox ab. Die letzte stammte von ihrer Freundin Clair May, die Tyler zur Schule gefahren hatte. Er hatte auf dem Rückweg die ganze Zeit geweint, wollte aber nicht
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