Rigor Mortis: Thriller Ein neuer Fall für Roy Grace (German Edition)
schwierig werden würde, mit Wucht. Scheiß drauf, dachte sie. Sie war entschlossen, positiv zu denken und sich nicht hängenzulassen. Das war sie Tyler – und sich selbst – schuldig. Als ihr Vater vor vier Jahren gestorben war, hatte ihre Mutter es wie immer philosophisch genommen und erklärt, das Leben sei eben eine Reihe von Kapiteln in einem Buch, und sie schlage nun ein neues Kapitel auf.
So würde sie auch denken, befand sie. Dies war dann eben das Kapitel mit dem Titel Carly ohne Führerschein. Sie würde sich mit den Fahrplänen von Bussen und Zügen auseinandersetzen müssen, so wie andere Menschen auch. Außerdem wäre es toll für die Umwelt. In den Ferien würde sie Tyler genau den Sommer bieten, den er immer gehabt hatte. Tage am Strand. Besuche im Zoo und in den Vergnügungsparks und Londoner Museen, vor allem dem Natural History Museum, seinem absoluten Favoriten. Vielleicht würde ihr diese Art des Reisens so sehr gefallen, dass sie für immer auf ein Auto verzichtete.
Vielleicht würden Schweine fliegen lernen.
Ihre Mutter war in der Küche beschäftigt. Sie trug eine Schürze mit der Aufschrift VERTRAUEN SIE MIR, ICH BIN ANWALT und begrüßte Carly mit einer Umarmung und einem Kuss.
»Du Ärmste, was für ein Tag.«
Ihre Mutter war ihr ganzes Leben lang für sie da gewesen. Sie war Mitte sechzig, hatte kurzes kastanienbraunes Haar und war eine noch immer gut, wenn auch traurig aussehende Frau. Sie hatte als Hebamme und später als Bezirkskrankenschwester gearbeitet. Jetzt engagierte sie sich in verschiedenen karitativen Organisationen wie dem örtlichen Hospiz.
»Das Schlimmste ist jedenfalls vorbei«, erwiderte Carly und bemerkte den Argus auf dem Küchentisch. Er sah gelesen aus. Sie hatte ihn nicht gekauft, weil ihr der Mut gefehlt hatte. »Bin ich drin?«
»Nur ein paar Zeilen. Auf Seite fünf.«
Die Titelgeschichte berichtete über einen Serienmörder namens Lee Coherney, der einmal in Brighton gelebt hatte. Die Polizei grub gerade die Gärten zweier Häuser um, in denen er früher gewohnt hatte. An der Wand über dem Küchentisch war ein kleiner Flachbildschirm angebracht, in dem die Geschichte auch gerade lief. Ein gutaussehender Polizeibeamter gab eine Erklärung zu den Fortschritten der Ermittlungen ab. Detective Chief Inspector Nick Sloan von der Kripo Sussex, lautete die Unterschrift.
Carly blätterte in der Zeitung, bis sie den winzigen Artikel gefunden hatte, und war diesem Ungeheuer Coherney heimlich dankbar, weil er ihre eigene Geschichte verdrängt hatte.
»Wie geht es Tyler?«
»Gut. Er ist oben und spielt mit diesem netten Freund, Harrison, glaube ich. Er ist gerade vorbeigekommen.«
»Ich gehe mal hallo sagen. Musst du los?«
»Ich mache dir noch etwas zu essen. Worauf hast du Lust? Es ist noch Lasagne und Salat da.«
»Mir ist nach einem riesengroßen Glas Wein!«
»Ich bin dabei!«
Es klingelte an der Tür.
Carly schaute ihre Mutter fragend an und warf einen Blick auf die Uhr. Viertel nach sechs.
»Tyler hat gesagt, gleich käme noch ein Freund. Sie wollen irgendein Kampfspiel am Computer machen.«
Carly ging zur Haustür. Die Sicherheitskette war nicht vorgelegt, aber es war auch noch früh. Sie öffnete die Tür und sah sich einem großen, schwarzen Mann von Mitte dreißig gegenüber, der einen schicken Anzug und eine moderne Krawatte trug. Begleitet wurde er von einer bieder aussehenden Frau im gleichen Alter.
Der Mann hielt einen Ausweis der Sussex Police in die Höhe.
»Mrs Carly Chase?«
»Ja«, sagte sie zögernd. Eigentlich hatte sie keine Lust, an diesem Abend noch mehr Fragen über den Unfall zu beantworten.
Er wirkte freundlich, aber leicht ungeduldig. »Detective Sergeant Branson. Dies ist meine Kollegin Detective Sergeant Moy von der Kripo Sussex. Dürfen wir hereinkommen? Wir müssen dringend mit Ihnen sprechen.«
Er warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter. Seine Kollegin schaute die Straße auf und ab.
Carly trat zurück und ließ sie herein. Irgendetwas behagte ihr nicht. Sie sah, wie ihre Mutter ängstlich durch die Küchentür spähte.
»Wir müssen allein mit Ihnen sprechen«, erklärte DS Branson.
Carly führte sie ins Wohnzimmer und machte ihrer Mutter ein beruhigendes Zeichen. Sie deutete auf die beiden Sofas, schloss die Tür und warf einen verlegenen Blick auf den braunen, stetig wachsenden Fleck an der Wand. Dann setzte sie sich auf das Sofa gegenüber und schaute die beiden Polizeibeamten trotzig an. Was würden
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