Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
Leben. An das Mädchen, das man liebt. Und außerdem fühlt man sich irgendwie bedeutungsvoll, wenn man diese Musik hört. Selbst wenn man es überhaupt nicht ist.
Während ich an meiner Klinik vorbeiging, versuchte ich mich an eine der Melodien der
Nocturnes
zu erinnern. Aber es gelang mir nicht. Was vielleicht ein Glück war, denn wenn ich auf die Sehnsucht nach meiner Mutter jetzt noch Chopin draufgesetzt hätte … Das hätte ich nicht ausgehalten.
Nach der Klinik kamen die Schulen. Die Simone-de-Beauvoir-Vorschule. Und die Jean-Paul-Sartre-Grundschule. Ich habe beide besucht. An die Vorschule kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Nur der erste Tag ist mir noch vage im Gedächtnis. Meine Mutter hatte mich hingebracht, und gerade als sie gehen wollte, brach ich in Tränen aus. Ich schäme mich bis heute dafür. Meine Muttermusste eine Stunde länger bleiben, damit ich mich beruhigte. Bestimmt kam sie viel zu spät zu den Rolands. Abgesehen davon erinnere ich mich an nichts, und ich empfinde nichts Besonderes, wenn ich dieses Gebäude sehe. Die kleinen Jungs, die auf diese Schule gehen, tun mir, ehrlich gesagt, einfach nur leid. Ich würde nicht gern noch einmal dort anfangen, wo sie jetzt stehen.
Ein seltsames Gefühl überfiel mich, als ich vor meiner Grundschule stand. Weil ich sie doch bis zum letzten Jahr besucht habe. Morgens sah ich die Großen daran vorbeigehen, weil sie schon auf dem Collège waren, das ich heute besuche. Und heute bin ich derjenige, der vorbeigeht. Dieser Gedanke hat mir einen Stich versetzt. Weil ich auf einmal so alt bin, meine ich. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass die Jungs in der Vorschule, wenn sie mich vorbeilaufen sehen, denken, dass ihnen das niemals passieren wird. Dass sie so alt werden und an ihrer Schule vorbeilaufen müssen. Doch sie haben keine Chance, es wird auch ihnen passieren. Und zwar schneller, als sie glauben. Das Einzige, was einem bleibt, wenn man zu den Großen gezählt wird, ist, dass man ein wenig aufschneiden kann.
Vergangenes Jahr mussten wir einen Aufsatz über Jean-Paul Sartre schreiben. Ich hatte ein paar Erkundigungen angestellt, und siehe da, er war mit dieser anderen zusammen, Simone de Beauvoir. Das fand ich den Hammer! Ich fragte mich, ob sie wohl zusammengekommen waren, weil die beiden Schulen nebeneinanderstanden. Dannfand ich jedoch heraus, dass sie lange tot waren, bevor die Schulen gebaut wurden. Ob die Leute, die für die Namen zuständig sind, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre absichtlich nebeneinander gebaut hatten, weil sie ein Paar waren? Meine Lehrerin von damals meinte, ja. Das fand ich enttäuschend, manchen Leuten mangelt es echt an Phantasie.
Zu Beginn des Schuljahrs mussten wir ein Buch über einen Jungen wie uns lesen, der aufs Land fährt. Ich weiß den Titel nicht mehr, und ehrlich gesagt hat die Geschichte einen auch nicht gerade vom Stuhl gefetzt. Das einzig Gute daran war, dass der Kleine schlussendlich doch den ganzen Sommer über bei seinem Großvater bleibt. Eigentlich hatte er keine Lust, dorthin zu fahren, und ganz miese Laune. Aber sein Großvater ist ein super Typ, deswegen gefällt es ihm plötzlich auf dem platten Land bei den Kühen und den Hühnern. Als er nach Hause in sein Viertel zurückkehrt, hat er total Sehnsucht nach all dem, und er muss die ganze Zeit an seinen Großvater denken. Ein paar Tage später erzählt seine Mutter ihm, dass sein Opa gestorben ist. Was sagt man dazu? Manche Bücher sind eben so gestrickt: Es ist völlig klar, an welchen Stellen man losflennen soll. Aber bei mir läuft das nicht so, wenn’s nicht geht, dann geht’s halt nicht.
Ich erwähne dieses Buch, weil es einen großen Moment gibt, nämlich als der Junge eines Morgens mit einem seiner Kumpels zur Schule geht und die beiden sich unfassbar blödes Zeug erzählen. Sie fragen sich, welche vonihren Klassenkameradinnen sie gern küssen würden. Und dann stellt sich heraus, dass beide dasselbe Mädchen küssen möchten. So ist das immer. Und wenn ich mir Mélanie Renoir ausgucke und mir sicher bin, dass wir wie geschaffen füreinander sind, kann ich das trotzdem mit niemandem teilen. Die Sache ist, dass ich sterben würde, wenn ich erführe, dass ich nicht der Einzige bin. Jedenfalls sind die beiden Jungs in dem Schmöker richtig besessen, und auch wenn das Buch sonst ziemlicher Mist ist – diese Passage hat es gerettet.
Man könnte auch ein Buch über die Jungs schreiben, die morgens hier zur Schule gehen. Ich
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