Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
weiß nicht, ob das Buch der Renner wäre, aber es hat auf jeden Fall etwas, wenn alle morgens auf dem Weg zu einem Ziel sind. Im Winter sehen wir aus wie ein Trupp von lauter Bauerntrampeln, die im Finstern tappen. Man kommt sich vor wie in einem dieser Länder, in denen es angeblich nie hell wird. Unser Erdkundelehrer hat uns davon erzählt, ich fand das relativ unglaublich. Zwei Nächte lang mag das ja ganz witzig sein, aber wenn man nie das Tageslicht sieht, dreht man doch irgendwann durch. Mein Freund Karim Larfa hat ein Buch gelesen, das ihn völlig erschüttert hat: Es ist die Geschichte eines Expeditionsteams, das ganz weit nach Norden fährt, um das Eis oder sonst was zu beobachten. Als sie ankommen, ist es immer hell, die Sonne geht Monate lang nicht unter, und es wird nie Nacht. Mit von der Partie ist auch ein Moslem, und es ist Ramadan. Er fastet also den ganzen Tag und wartet darauf, dass esendlich dunkel wird, damit er essen kann. Einer der Einwohner erklärt ihm, dass es am 20. März wieder dunkel wird, also in drei Monaten.
Karim kriegte sich überhaupt nicht mehr ein.
»Stell dir das mal vor, der arme Kerl, drei Monate lang fasten!«
»Glaubst du, er hat gefastet und ist daran gestorben, oder er ist eingeknickt und hat tagsüber gegessen?«
»Das weiß ich nicht, in dem Buch steht nichts darüber.«
Karim ist aber total gläubig, wegen seiner Eltern und so, und sagte: »Meiner Meinung nach sind die Tage im hohen Norden deshalb so lang, weil Gott wusste, dass es dort keine Araber gibt.«
»Ja, vielleicht …«
Normalerweise wartet Karim vor dem Turm auf mich, er wohnt im neunten Stock, und wir gehen gemeinsam zur Schule. Karim ist wirklich super, eine wahre Naturgewalt. Er ist zwei Köpfe größer als ich, und zwar schon seit seiner Geburt. Wir waren immer in derselben Klasse, auf der Beauvoir, der Sartre und der Baudelaire. Obwohl er so ein Riese ist, verliert Karim nie die Ruhe. Er ist der ausgeglichenste Typ, den man sich vorstellen kann. Nur einmal, beim Fußball, bekam er einen Wutanfall. Es war unglaublich. Er ist Mittelstürmer, und der Verteidiger der gegnerischen Mannschaft brachte ihn mit einer Blutgrätsche zu Fall. Karim stand wieder auf und ging mit Vollkarachoauf den Verteidiger los. Der dachte in dem Augenblick bestimmt, sein letztes Stündchen hätte geschlagen. Karim packte den Typ am Kragen, hob ihn mindestens drei Meter hoch und brüllte ihn an:
»Du kommst mir nicht mehr zu nahe, kapiert?!«
Dann hat er den Kerl abgestellt und wieder seine Position eingenommen.
Nachher in der Umkleide hat keiner gewagt, Karim darauf anzusprechen, vor allem weil er wieder so ruhig war wie eh und je.
Ich selbst bin eher ein Nervenbündel. Ich muss immer etwas zu tun haben. Wenn ich einfach nur dasitze, fängt mein Bein an zu zappeln. Ich bemerke es und halte still – genau zehn Sekunden, bis es wieder wie verrückt losgeht. Schon unheimlich, wenn man sein Bein nicht unter Kontrolle hat. Noch unheimlicher ist mir das Nägelkauen, das finde ich wirklich ganz eklig. Irgendwann im letzten Jahr hat es angefangen, und seither habe ich ständig die Finger im Mund. Und zwar nicht bloß im Unterricht, nein, von morgens bis abends knabbere ich an mir rum. Meine Mutter hat mir schon Nagellack gekauft. So ein Zeugs, das man auf die Nägel aufträgt und das dermaßen scheußlich schmeckt, dass einem davon angeblich übel wird. Ich habe es zwei, drei Mal damit probiert. Total peinlich! Ich stehe im Badezimmer und male mir die Nägel an, und daneben steht meine Mutter, schaut in den Spiegel und schminkt sich. Das Problem ist, dass mir von dem Lack nicht übel wurde, sondern ich mich im Gegenteil an denGeschmack gewöhnt habe. Man bekommt einen Atem davon wie eine Ziege.
Karim und ich gehen etwa zehn Minuten zu zweit zur Schule. Wir reden nicht viel, genießen eher den Moment der Entspannung, bevor der Sturm losbricht, also Yéyé hinzukommt. Yéyé redet wie ein Wasserfall, er muss zwei Münder haben. In einem Atemzug erzählt er uns, dass seine Mutter Selbstmord begehen wollte, oder dass sein Vater ihn rausschmeißen wollte, oder dass er Kieselsteine auf das Schlafzimmerfenster seiner Eltern gefeuert hat, oder dass er einen Vogel gefangen und erst einmal die ganze Nacht gefoltert hat, bevor er ihn aus dem zweiundzwanzigsten Stockwerk fallen ließ. Yéyé hat’s bestimmt nicht einfach, aber sein Gequatsche von morgens bis abends nervt. Und außerdem übertreibt er auch immer ein bisschen. Ich
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