Ringkampf: Roman (German Edition)
sich sein Hirn in einem Zustand befunden, als ob es zu lange im Lösch wasser gelegen hätte.
Cora steckte die Zigarette an. Qualmend trat sie auf den Balkon hinaus.
Die Pyramidenspitze des Messeturms leuchtete kariös. Den Frankfurter Pharaonen fehlte mittlerweile sogar das Geld, hundert Neonröhren in Schuß zu halten.
Auf der sechsspurigen Straße kleckerte der kleine Nachtverkehr. Cora ließ ihre Kippe in die Tiefe fallen. Die Chance, einen Passanten zu treffen, war geringer als eins zu sechshunderttausend.
Seit dem Opernbrand hatte sie von ihrer aufgeblasenen Geburtsstadt nur mehr den Flughafen gesehen. Schon gestern morgen, im Taxi auf der Mörfelder Landstraße, war ihr klar geworden, daß es ein Fehler gewesen war, diese Waffenruhe zu brechen.
Fröstelnd kehrte sie ins Zimmer zurück. Gemeinsam mit einem schlechten Côte du Rhône kroch sie wieder ins Bett.
Lange konnte es nicht mehr dauern, bis das Metropolis am Main endgültig konkursreif war. Der Verkauf des Tafelsilbers war bis zu den Mokkalöffeln fortgeschritten. Für die Oper hatte der Überlebenskampf bereits die heiße Phase erreicht. In der ganzen Stadt plakatierte Spendenaufrufe versuchten, die Frankfurter Bürgerherzen zu erweichen. Serengeti darf nicht sterben.
Grinsend nuckelte Cora an ihrer Flasche.
Ihre eigene Zunft war längst zur bedrohten Spezies geworden. Von den fünf fest engagierten Dramaturgen aus der alten Zeit gab es keinen einzigen mehr. Auf Artenschutz konnte nur hoffen, was der Banker vom Parkett aus sah.
Halbherzig schloß Cora die Augen. Ihre Gedanken begannen im Rotwein zu treiben. In kurzen Wellen schwappte es an ihre Hirnschüssel.
Warum hatte sie diese Pauschalreise in die Vergangenheit angetreten? Was wollte sie noch von diesem Bühnenfestspiel, in das sie ihr erstes und letztes Theaterherzblut vergossen hatte? Was wollte sie von diesem
Regisseur, dessen verschlungene Pfade sie seit jener Brandnacht nicht mehr gekreuzt hatte?
Die Dramaturgin schmiß die leere Flasche aus dem Bett. Ein feines Sirren spaltete ihren Schädel. Sie preßte die Hände auf die Ohren. Der Riß wuchs. Stöhnend warf sie sich auf die andere Seite. Der Ton endete abrupt.
Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug . Stumm wiederholte sie die Worte, die sich wie Blutgerinnsel auf ihrer Zunge gebildet hatten.
6
Auf der großen Probebühne herrschte die Ruhe vor dem Weltendrama. Alexander Ravens sparsame Kulissen waren markiert, die drei Schaukeln für die Rheintöchter hingen friedlich von der Decke herab. Im nüchternen Neonlicht erschienen sie wie unschuldiges Kinderspielgerät. Die gewaltige schwarze Höhle, in der sie später zum Unheil schwingen sollten, hatte auf der Probebühne nicht aufgebaut werden können.
Anna Santner und Helga Härtel, die Sängerinnen der Wellgunde und Floßhilde, waren als erste eingetroffen. Die langgedienten Frankfurter Sangesschwestern hatten eine leuchtend rote Thermoskanne zwischen sich gestellt, nippten an ihrem Tee und plauschten. Über Gott und die Welt, das heißt: über ihre Männer und die verregneten Sommerfestspiele in irgendeinem Provinznest.
Slawomir Wolansky, der junge polnische Sänger, der bald als Alberich nach ihnen brunften sollte, saß abseits,
äugte von Zeit zu Zeit mißtrauisch herüber und kaute sich die Nägel blutig. Es war sein erstes Engagement als Wagners führender Nibelung.
Ivan Jouvain brütete lustlos über dem Rheingold-Klavierauszug. Hin und wieder schlug der Kapellmeister und Korrepetitor einige Takte auf dem Flügel an, um sich die Fingersätze fürbesonders unangenehm zu greifende Akkordverbindungen zurechtzulegen. Eigentlich hatte er bei dieser Produktion als Bellinis musikalischer Assistent arbeiten sollen. Durch einen amourösen Fehltritt war er in Ungnade gestürzt. Sein Meister hatte ihn ans Klavier strafversetzt.
Nach und nach trudelte der nichtmusizierende Teil des Ensembles ein. Der Regisseur begrüßte die beiden Damen, die er noch von damals kannte. Seine Frau gesellte sich zu ihren Bühnenschwestern.
Die Hospitantin wehte auf die Probebühne wie eine leichte, frühmorgendliche Windbö. Daß um diese Uhrzeit niemand an einer Windbö interessiert war, vermochte ihren Elan nur unwesentlich zu mindern. Mit lässigem Schwung packte sie ihren Klavierauszug aus, den sie vor Jahren von einer Socke voll mühsam abgezweigter Silbermünzen gekauft hatte.
Reginald Schönstedt war mittlerweile ebenfalls erschienen, und Alexander Raven redete mit knappen Gesten
Weitere Kostenlose Bücher