Ringkampf: Roman (German Edition)
auf seinen neuen Assistenten ein. Dieser nickte beflissen und kritzelte etwas in sein Notizbuch.
Eine atmosphärische Störung, eine kurze elektrische Entladung durchzuckte den betriebsamen Frieden. Cora Starneck hatte die Szene betreten. Für den Bruchteil einer Sekunde schauten der Regisseur und sie sich an. So lange, wie eine Information benötigte, um vom
Auge ins Hirn zu gelangen. Elisabeth Raven-Winterfelds Kopf war durch den Stromstoß hochgeschnellt.
Die Dramaturgin verzog den Mund und ließ ihr schweres Regiebuch auf das Pult fallen.
Während die Sängerinnen ihr Geplauder einstellten und der polnische Sänger sich von seinem letzten Fingernagel verabschiedete, nahm das geschrumpfte Regieteam an der langen Tafel Platz. Bis zu zehn Personen hatten damals hier gesessen. Heute blieben die meisten Stühle leer – am allerleersten der Stuhl zwischen Cora Starneck und Alexander Raven.
Der Regisseur rang sich ein wundes Lächeln ab. »Nun, ich weiß nicht, wie es euch geht«, begann er, »aber ich habe das Gefühl, wir sollten erst einmal einen musikalischen Durchlauf machen, um wieder reinzukommen. Was meint ihr?«
Die Sängerinnen murmelten Zustimmendes.
Alexander Raven nickte dem Korrepetitor zu. »Ja, dann fangen Sie doch bitte einfach an, Herr, Herr – «
»Jouvain«, sekundierte Reginald.
Die Wagnersche Ouvertüre klang aus den Händen des Kapellmeisters wie ein Experiment in anorganischer Chemie. Statt Tönen spielte er Atome, statt Akkorden zerfallende Molekülverbindungen. Der Rhein, der dem Flügel entsprang, war von der Quelle an vergiftet.
Der Regisseur runzelte die Stirn. Angestrengt starrte er auf die markierten Kulissen, während sich die Stimme seiner Gattin darum bemühte, mit dem ersten Weia! Waga! Leben in die trübe Teilchensuppe zu bringen. Doch die Wasser blieben unbewegt, und das Bühnenbild blieb Sperrholz. Die Geister wollten sich nicht zeigen.
Cora Starneck blätterte in dem durchschossenen Klavierauszug. Sie betrachtete die schlecht gemalten Strichmännchen, die krakeligen Buchstaben und Silben, die neben den sauber gestochenen Noten durcheinanderstolperten. An besonders wirren Stellen schwappte das szenische Chaos auf die musikalische Ordnung über. Der Dramaturgin gelang es, einige Wortruinen zu entziffern. Sie fragte sich, was Wog. li. Hnd. bauml., Alb. Auftr. v. r., p. Schr. ri. Wog., zrck., an. Wnd. kaur. wohl heißen mochte. Welcher Assistent auch immer das Regiebuch angelegt hatte, er hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, daß man es eines Tages als letzten Rettungsanker brauchen würde. Cora steckte sich eine Zigarette an und inhalierte tief, bevor sie sich wieder dem kryptischen Werk zuwandte.
Alexander Raven hatte aufgehört, in die toten Kulissen zu starren. Er klopfte auf den Tisch. »Danke«, unterbrach er den umgekippten musikalischen Fluß, in dem sich die drei Rheintöchter und der Nibelung tummelten, »danke, ich glaube, bis hierher reicht fürs erste. Wir sollten das jetzt probieren. Wollen wir doch mal sehen, wieviel davon noch da ist.«
Die Damenriege ging unaufgefordert zu den Schaukeln. Der Regisseur belohnte sie miteinem strahlenden Lächeln. »Na, wunderbar, ihr wißt ja noch alles. Genau, ihr drei gehört da oben rauf. Und zwar: Elisabeth, du mußt ganz nach links. Wer ist Wellgunde? – Du, Anna? Ja gut, du nimmst dann die Schaukel in der Mitte, und Helga nach rechts. – So hatten wir das doch, oder?« Automatisch wanderte sein Blickzur Dramaturgin.
Aus den Tiefen des Regiebuchs heraus schüttelte Cora den Kopf. »Also wenn ich das richtig sehe, muß
Floßhilde zwischen Woglinde und Wellgunde. Frag mich aber nicht warum.« Sie raschelte mit den Seiten. »Ah doch, hier hab ichs. Es ist wegen der Szene später. Alberich schmeißt sich doch der Reihe nach an die drei ran. Woglinde, Wellgunde, Floßhilde. Und wir wollten nicht, daß er dabei einfach von links nach rechts marschiert. Um das aufzubrechen, haben wir Floßhilde in die Mitte genommen.«
Von ihrem kooperativen Eifer selbst überrascht, schaute sie Alexander Raven an. Sie fand es erschreckend, daß sechs in ihre Richtung genuschelte Wörter gereicht hatten, die Barrikaden der vergangenen Jahre zu unterwandern.
Auch Alexander Raven merkte, daß Cora und er sich ansahen. Erverschluckte sich. »Ah so, ja«, stammelte er, »ja, dann, dann sollten wir das auch beibehalten. Reginald, könntest du den dreien bitte helfen!«
Der Regisseur durchwühlte seine Hosentaschen nach einem Kaugummi.
Weitere Kostenlose Bücher