Ringkampf: Roman (German Edition)
Wolkenkratzern, die sich in der Morgendämmerung reckten. Beschämt blickte es an seinem abgetragenen Kittel aus Muschelkalk hinab. Seitdem Aluminiumrohre, Milchglasstreifen und Marmorplatten seinen schlichten Funktionalismus verspielten, erschien er ihm schäbig.
Die Frankfurter Skyline irisierte in der aufgehenden Sonne. Wie die Fassade war auch die Silhouette der
Operaus den Jahren des Komas nicht unberührt hervorgegangen. Dem eingestürzten Bühnenturm hatte man beim Wiederaufbau sechs Meter hinzugefügt. Eitel ragte er aus dem gedrungenen Körper. Einen Seitenflügel und die Magazine hatte man aufgestockt. Wie ein glitzerndes Geschwür saß die neue Glasetage auf der linken Gebäudeschulter.
Aus einem kleinwüchsigen Opernhaus war ein kleinwüchsig-verwachsenes Opernhaus geworden. Der Versuch, die plumpe Trümmerfrau zum langbeinigen Glamour-Girl nachzurüsten, hatte eine Schaubudenmonstrosität geschaffen.
Doch der Zeitgeist hatte mit seinen spitzen Zähnen nicht nur die Haut der Oper geritzt, nicht nur an ihrer äußeren Gestalt gezerrt. Ausgekernt hatte er sie, ihre verbrannten Eingeweide herausgeschabt und tonnenweise neuen Stahl und Beton implantiert. Neue Lüftungsschächte mit neuen Brandschutzklappen machten der Oper das Atmen schwer. Neuer Lack und neue Farben verströmten giftige Dämpfe. Ihr Blut rauschte schneller als gewohnt durch frisch verlegte Stromadern. Die Nervendrähte lagen blank. Neue Pfeiler zementierten ihre Füße tiefer in die Erde. Ein zusätzlicher Probenraum wollte ihren Schädel sprengen. Die neue Drehbühne kreiste lautlos auf einem neuen Fahrwerk. In der Obermaschinerie hatte ein Rechner das alte Stammhirn ersetzt, hatte die alleinige Herrschaft über Licht, Vorhang, Kulissen und Prospekte an sich gerissen. Stur tickte er hinter der Leichtmetallstirn des neuen Bühnenturms.
Der Operwarübel. Sie sehnte sich ins Koma zurück.
5
Die Schenkel des durchschossenen Klavierauszugs lagen gestreckt auf der Matratze. Der Luftzug, der durch die geöffnete Balkontür ins Zimmer kam, blätterte in den Seiten. Gedruckte Notensysteme und eingefügte Seiten mit handgeschriebenen Regieanweisungen wechselten einander ab.
Die Zigarette war bis auf einen Stummel heruntergebrannt. Die kalkweiße Hand, zwischen deren Mittel-und Zeigefinger sie klemmte, senkte sich langsam. Die Aschenspitze brach ab und zerstob auf dem Papier. Wie alles war, weiß ich |. . . Asche schwärzte die Textzeile zwischen den Notenlinien.
Ein Windstoß fuhr in den Klavierauszug und wendete das Blatt. Die Hand senkte sich tiefer. Höre! Höre! Höre! Alles, was ist, endet! Ein düstrer Tag dämmert den Göttern: Dir rat ich, meide den Ring! Die glühende Zigarettenspitze fraß sich in die Wörter. Alles . . . endet. Das schwarze Loch mit den glimmenden Rändern wuchs. All . . . det . Ein stehender Dreiklang verschmauchte. Die Hand legte sich auf die schwelenden Noten.
Cora Starneck schrie, noch bevor sie erwachte. Der Zigarettenstummel spritzte durch den Raum. Die geschlossenen Augen in dem von langen schwarzen Haaren gerahmten Gesicht sprangen auf. Die Dramaturgin keuchte. Mit dem Kopfkissen drosch sie auf den brennenden Klavierauszug ein. Federn und Rußpartikel wirbelten auf. Sie trat das gelöschte Rheingold aus ihrem Bett. Es landete auf drei anderen, schlecht gestapelten
Klavierauszügen. Die Ringlawine setzte sich in Bewegung.
»Scheiße« zischte Cora. »Verdammte Scheiße.« Es hatte sie Stunden gekostet, den Schlaf heranzulocken. Draußen dämmerte es bereits. Ein zweiter Versuch wäre vergebens.
Die Dramaturgin schwenkte ihre nackten Beine aus dem Bett und hängte sich eine neue Zigarette in den Mundwinkel.
Bei der anstehenden Operation, durch die der Ring zu altem Leben erweckt werden sollte, war ihr die Rolle der OP-Schwester zugedacht. Die vier Wälzer, die sie seit Wochen quer durch die Welt schleppte, waren die einzigen Regiebücher, die das große Feuer überlebt hatten. Alle anderen, auch die Videocassetten mit den Probenaufzeichnungen waren damals in Rauch aufgegangen.
Cora lächelte durch ihren abgesplitterten Schneidezahn. Schneewittchen wurde zur bösen Königin. Sie wußte: Ihre Bücher und sie selbst waren derseidene Faden, an dem diese Re-Inszenierung hing. Mit blutrot lackierten Zehen schlug sie die Götterdämmerung auf. Die Seiten knisterten. Alexander Raven war ohne ihre Hilfe verloren. Auf die weißen Flecken in seinem Gedächtnis konnte sie sich verlassen. Bereits vor dem Brand hatte
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