Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund
bewahrt. Womöglich hätte er unter den Rädern des Zuges einen Fuß verloren.
Nach einem tiefen Schlaf stand Tom gegen halb neun [184] auf, noch bevor Héloïse erwachte. Er trank einen Kaffee unten im Wohnzimmer, schaltete das Radio zu den Neunuhrnachrichten aber nicht ein, obwohl er neugierig war. Dann spazierte er durch den Garten, betrachtete nicht ohne Stolz das Erdbeerbeet, wo er erst neulich gehackt und gejätet hatte, und besah sich die drei Jutesäcke mit Dahlienzwiebeln, die im Keller überwintert hatten und nun gepflanzt werden mußten. Vielleicht sollte er heute nachmittag Jonathan anrufen. Je eher sie sich trafen, desto besser für dessen Seelenfrieden. Ob auch er den blonden Leibwächter bemerkt hatte, der so aufgeregt gewesen war? Tom hatte ihn im Gang getroffen, auf dem Weg vom Speisewagen zurück zu seinem Platz drei Wagen weiter hinten: Der Mann wirkte, als wollte er jeden Moment vor ohnmächtiger Wut in die Luft gehen, und Tom hätte am liebsten in seinem besten italienischen Gossenslang zu ihm gesagt: »Die feuern dich noch, wenn du so weitermachst, eh ?«
Kurz vor elf kam Madame Annette von ihren morgendlichen Besorgungen zurück. Tom hörte, wie die Seitentür zur Küche zufiel, und ging hinüber, um einen Blick in den Parisien Liberé zu werfen.
»Wegen der Pferde.« Lächelnd griff Tom nach der Zeitung.
» Ah oui! Sie haben gewettet, Monsieur Tomme ?«
Madame Annette wußte, er wettete nicht. »Nein, aber ein Freund. Ich will nur mal nachsehen.«
Unten auf der Titelseite fand er, was er suchte, einen kurzen Artikel, ungefähr zwanzig Zeilen: Italiener mit Garrotte erdrosselt, ein zweiter schwerverletzt. Der Tote wurde als Vito Marcangelo, 52, aus Mailand identifiziert . [185] Tom interessierte sich mehr für den Schwerverletzten, Filippo Turoli, 32, der ebenfalls aus dem Zug geworfen und mit einer schweren Gehirnerschütterung und mehreren Rippenbrüchen in ein Straßburger Krankenhaus eingeliefert worden war. Ein Arm war so schwer verletzt, daß er vielleicht amputiert werden mußte. Turoli lag im Koma, sein Zustand war kritisch. Wie es in dem Artikel weiter hieß, hatte ein Fahrgast den Schaffner alarmiert, nachdem er einen Körper auf dem Bahndamm hatte liegen sehen. Da hatte der luxuriöse Mozart-Expreß auf seiner Fahrt nach Straßburg allerdings à pleine vitesse schon etliche Kilometer mehr zurückgelegt. Die Rettungsmannschaft hatte dann die beiden Körper gefunden. Man schätzte, daß die zwei Männer im Abstand von vier Minuten aus dem Zug gefallen waren. Die Polizei ermittelte mit allem Nachdruck.
Die nächsten Ausgaben würden sicher mehr dazu bringen, wahrscheinlich auch Fotos. Hübsches Beispiel für gallischen Spürsinn, das mit den vier Minuten, dachte Tom. Wie eine Rechenaufgabe für Schulkinder: Ein Zug fährt mit einhundert Stundenkilometern, ein Mafioso wird hinausgeworfen, ein zweiter ebenfalls und 6 2 / 3 Kilometer vom ersten entfernt gefunden. Frage: Wieviel Zeit ist zwischen den beiden Rauswürfen vergangen? Antwort: vier Minuten. Der zweite Leibwächter wurde nicht erwähnt; offenbar hatte er den Mund gehalten, statt sich über die Bedienung im Mozart-Expreß zu beschweren.
Aber der andere, Turoli, war nicht tot. Außerdem hatte der Mann möglicherweise sein Gesicht gesehen, bevor Tom ihm den Kinnhaken verpaßte, konnte ihn also beschreiben oder identifizieren, falls er ihn wiedersah. [186] Jonathan dürfte er dagegen gar nicht bemerkt haben, weil der ihn von hinten niedergeschlagen hatte.
Gegen halb vier war Héloïse zu ihrer Freundin Agnès Grais am anderen Ende von Villeperce gefahren. Tom suchte die Nummer von Jonathans Laden in Fontainebleau heraus, dabei merkte er, daß er sie nicht vergessen hatte.
Trevanny meldete sich.
»Hallo, hier ist Tom Ripley. Es geht um mein Bild… Sind Sie gerade allein?«
»Ja.«
»Ich würde Sie gern sprechen. Es ist wichtig, glaube ich. Könnten wir uns treffen, sagen wir, heute nach Ladenschluß? So gegen sieben? Ich könnte –«
»Ja.« Der Mann klang zum Zerreißen gespannt.
»Ich könnte beim Salamandre im Wagen warten. Sie kennen die Bar in der Rue Grande?«
»Ja.«
»Dann fahren wir irgendwohin und reden. Um Viertel vor sieben, ja?«
»In Ordnung.« Als ob er die Zähne zusammenbisse.
Jonathan dürfte angenehm überrascht sein, dachte Tom, und hängte auf.
Er war in seinem Atelier, als Héloïse kurz darauf anrief.
»Hallo Tomme ! Ich komme nicht zum Essen, weil nämlich Agnès und ich was ganz
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