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Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)

Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)

Titel: Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Gigerenzer
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(der Macula) führt. Häufig entwickelt sie sich aus der trockenen Maculadegeneration, einer weniger schweren Form. Es war zwar keine wirksame Therapie bekannt, aber man empfahl die sogenannte fotodynamische Therapie, die das Fortschreiten der Krankheit möglicherweise aufhalten kann. Dabei wird der Wirkstoff Verteprofin injiziert, der sich in den abnormen Blutgefäßen konzentriert, dann wird er mit Laserlicht aktiviert, damit er die abnormen Blutgefäße schädigt. Ich las die wenigen verfügbaren Studien und fand die vorliegenden Belege ziemlich uneindeutig: Das Verfahren kann nützen, aber auch schaden.
    Was tun? Ich trieb einen medizinischen Experten auf, der die fotodynamische Therapie schon oft durchgeführt hatte, und schilderte ihm das Leiden meiner Mutter.
    »Was empfehlen Sie?«, fragte ich.
    »Wenn Sie mich so fragen, denke ich, Ihre Mutter sollte die Behandlung versuchen«, erklärte er.
    In diesem Augenblick erkannte ich, dass ich die falsche Frage gestellt hatte.
    »Ich habe nur eine Mutter«, sagte ich. »Wenn es Ihre Mutter wäre, was würden Sie tun?«
    »Oh, ich würde es nicht machen, nein, ich würde ihr raten, noch abzuwarten«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.
    Ich berichtete meiner Mutter von dem Gespräch, und sie lehnte die Behandlung ab. Warum gab der Arzt eine Antwort, als ich ihn fragte, was er empfehle, und eine ganz andere, als ich ihn fragte, was er täte, wenn es seine Mutter wäre? Der Arzt wusste, dass seine Mutter ihn nicht verklagen würde, nicht aber, ob ich es vielleicht tun würde. Die Frage nach seiner Mutter veränderte seine Perspektive. Daher kann folgende Faustregel oft helfen:
    Frage deinen Arzt nicht, was er empfiehlt, sondern frage ihn, was er tun würde, wenn es seine Mutter, sein Bruder, sein Kind wäre.
    Doch die Geschichte meiner Mutter hat noch einen zweiten Teil, der nichts mit defensiver Medizin zu tun hat, sondern mit der Unfähigkeit vieler Ärzte, die medizinische Evidenz ihres Fachs zu verstehen. Einige Jahre später begann sie aus dem gleichen Grund die Sehfähigkeit im anderen Auge zu verlieren. Dieses Mal glaubte sie, sie müsse ihre letzte Chance ergreifen, und ich widersprach ihr nicht. Nachdem ich einen Fachmann für die fotodynamische Therapie in der Heimatstadt meiner Mutter ermittelt hatte, stellte ich einen ersten Kontakt her. Hier unser Telefongespräch:
    »Sie müssen wissen, dass die Behandlung nicht zu einer Heilung führt, sondern lediglich das weitere Fortschreiten der Erblindung aufhalten kann«, erklärte der Experte in etwas herablassendem Ton.
    »Ich verstehe.«
    »Und sie müssen wissen, dass der Erfolg nicht sicher ist, sondern dass die Wahrscheinlichkeit, das Fortschreiten aufzuhalten, 50 Prozent beträgt«, fuhr der Experte fort.
    »Wir gehen das Risiko ein«, bestätigte ich.
    »Und Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass ich die Behandlung vier- bis fünfmal wiederholen muss, wenn sie beim ersten Mal nicht anschlägt.«
    »Oh«, sagte ich, »beziehen sich die 50 Prozent auf die erste Behandlung oder auf die ganze Folge von vier oder fünf Behandlungen?«
    »Auf die erste, und das Gleiche gilt für die zweite. Wieder 50 Prozent.«
    »Aber das ist doch ausgezeichnet, das bedeutet, dass der Erfolg nach fünf Behandlungsdurchgängen so gut wie sicher ist – denn am Ende ist das Fortschreiten der Krankheit zu mehr als 90 Prozent aufgehalten, weil …«
    »Nein, nein«, unterbrach er mich, »nach allen Durchgängen haben wir immer noch eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent.«
    »Aber dann würden doch der zweite und der dritte Durchgang keinen Beitrag mehr leisten, oder?«
    Es folgte eine lange Pause am anderen Ende der Leitung. Ich konnte fast hören, wie der Spezialist nachdachte.
    »… Hmmm«. Der Spezialist hatte das Problem nun erkannt. »Ich muss mir den Artikel noch einmal vornehmen.«
    Ich verfolgte die Angelegenheit nicht weiter. Eine Kollegin des Spezialisten erzählte mir, er sei nach diesem Telefongespräch zu ihr hinausgestürzt und habe sich über mich beklagt. Ich hatte sein Unfehlbarkeitsgefühl verletzt. Doch er nahm sich den Artikel tatsächlich noch einmal vor und las ihn. Was auch ich tat – und dabei einige interessante Dinge herausfand.
    Halten wir zunächst einmal fest, dass mir der Spezialist eine Einzelfall-Wahrscheinlichkeit nannte: die 50-prozentige Chance, dass das Fortschreiten der Erkrankung zum Stillstand gebracht wird. Wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, können diese

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