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Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)

Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)

Titel: Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Gigerenzer
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Wahrscheinlichkeiten verwirrend sein, weil die Referenzklasse nicht angegeben wird. Es könnten alle Patienten sein, die sich der Behandlung einmal unterziehen, oder die Patienten, die sie mehrfach erhalten. Hier ging es um Patienten, die mehrfach behandelt wurden. Zweitens ist eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, das Fortschreiten der Erblindung aufzuhalten, an sich wenig aussagekräftig. Sie muss mit der Wahrscheinlichkeit verglichen werden, dass das Fortschreiten zum Stillstand kommt, wenn nichts unternommen wird. In dem Artikel wurde berichtet, dass dies bei 38 Prozent der Patienten auch ohne Behandlung der Fall ist. 76 Daraus folgt, dass nicht 50, sondern nur 12 Prozent der Patienten aus der Behandlung Nutzen zogen. Dann erfuhr ich, dass Stillstand nicht wirklich Stillstand bedeutet, sondern definiert wurde als ein Verlust von nicht mehr als drei Sehschärfelinien. Einige der Patienten, die laut der Studie von der Behandlung »profitierten«, hatten tatsächlich eine weitere Einbuße ihres Sehvermögens erlitten. Dann waren da noch die möglichen Schädigungen: Mehrere Patienten berichteten von abnormem Sehen und Sehverlust nach der Behandlung. Nicht zuletzt fand ich bei der Frage nach Interessenkonflikten heraus, dass die Studie von dem Unternehmen finanziert worden war, welches das kostspielige Medikament herstellte, und dass viele der Autoren Angestellte oder bezahlte Berater des Unternehmens waren.
    Der zweite Teil der Geschichte illustriert, was ein Patient immer fragen sollte:
    • Welchen Nutzen hat die Behandlung?
    – 50 Prozent von wie viel (zum Beispiel von denen, die einmal, oder von jenen, die fünfmal behandelt wurden)?
    – Wie groß ist der »Erfolg« bei denen, die nicht behandelt wurden?
    – Was genau meinen Sie, wenn Sie von »Erfolg« sprechen?
    • Welche Schädigungen können durch die Behandlung entstehen?
    • Wer hat die Studie finanziert?
    Ich beschloss, meiner Mutter nichts von der Verwirrung des Spezialisten zu erzählen. Das Ende der Geschichte war, dass ich sie zu dem Behandlungstermin begleitete, bei dem der Spezialist sich mir gegenüber außerordentlich freundlich benahm und mir mehrmals signalisierte, dass er den Artikel gelesen hatte. Meine Mutter hatte große Hoffnungen auf die Behandlung gesetzt. Doch sie hatte kein Glück. Kurz nach der Behandlung wurde sie blind. Der Spezialist ordnete sie in die Kategorie der erfolgreichen Behandlungen ein.
    Prozedere über Leistung
    Furcht vor Tadel, Kritik und rechtlichen Konsequenzen liefern die Beweggründe dafür, den Zweitbesten einzustellen, die zweitbesten Managemententscheidungen zu treffen und defensive Medizin zu praktizieren. Um Vorwürfe zu vermeiden, verstecken sich viele hinter dem »sicheren« Prozedere. Sie verlassen sich auf große Namen, tun, was alle anderen tun, und hören nicht auf ihre Intuition. Setzen auf Tests und Hightech-Geräte, auch wenn sie nutzlos oder schädlich sind. Unter Ärzten gibt es eine Redensart: »Wegen Überbehandlung ist noch niemand verklagt worden.« Wer möchte schon eine gerichtliche Klage von Patienten riskieren, weil er nach bestem Wissen und Gewissen deren Interessen wahrgenommen hat? Und nicht zuletzt lockt die defensive Medizin auch mit finanziellen Anreizen: Krankenversicherungen bezahlen Ärzten und Kliniken fürstliche Honorare für Überbehandlungen, aber nur ein paar Euro dafür, dass sie sich die Zeit nehmen, den Patienten zu erklären, welche Alternativen es zu einer bestimmten Behandlung gibt und welche tatsächlichen Vor- und Nachteile sie hat.
    Defensive Entscheidungen sind nicht das Gleiche wie Risikoscheu. Vielmehr können sie zu übermäßiger Risikobereitschaft führen. Wenn Ihnen Ihre Intuition sagt, dass eine Investition überbewertet ist, Sie diese aber trotzdem tätigen, weil alle anderen es tun, gehen Sie unter Umständen ein unangemessenes Risiko ein. Darin liegt einer der Gründe für den Herdentrieb von Finanzinvestoren, der in der jüngsten Finanzkrise zu übermäßiger Risikobereitschaft führte. Das Problem ist nicht Risikoscheu, sondern der Mangel an einer positiven Fehlerkultur. Die Menschen müssen ermutigt werden, über ihre Fehler zu sprechen und die Verantwortung für sie zu übernehmen, damit sie aus ihnen lernen und ihre Leistung verbessern können.
    Vor einiger Zeit besuchte mich ein erfahrener Headhunter. Dank seiner profunden Kenntnisse der Geschäftswelt hatte er rund 1000 Spitzenmanagern und Vorständen zu ihren Stellungen verholfen. Fast immer

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