Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
geringste von dieser sonderbaren Stelle an der rechten Leiste spürte.
Der Schmerz hob dramatisch die Tatsache hervor, daß ich einen Körper habe, nein, daß ich ein Körper bin, und aus dieser Tatsache, daß ich ein Körper bin , ließ sich ein eigentümlicher Trost, fast eine Geborgenheit schöpfen, ungefähr wie ein sehr einsamer Mensch aus der Gegenwart eines Haustiers Geborgenheit schöpft.
Dieses Haustier war sehr problematisch und glich vor allem gegen Morgen eher einem wilden Tier, aber es gehörte jedenfalls irgendwie mir , genau wie der Schmerz mir gehörte und keinem anderern.
Aber jetzt beginne ich mich zu fragen, worauf ich mich eingelassen habe, als ich beispielsweise diesen Brief verbrannte, ohne ihn aufzumachen.
Was ich heute in der späten Nacht und in den Morgenstunden erlebt habe, hätte ich einfach nicht für möglich gehalten . Es war absolut fremd, weißglühend und völlig überwältigend. Ich versuche, sehr langsam zu atmen, aber solange es anhält, ist selbst dieses Atmen, das mir wenigstens auf eine sehr abstrakte Art zwischen dem Schmerz als Empfindung und der Panik unterscheiden helfen soll, eine fast übermächtige Anstrengung.
Nichts mehr von einem Haustier. Eine furchtbare, unerhörte, weißglühende, unpersönliche Kraft läßt sich in meinem Nervensystem nieder, okkupiert es bis aufs letzte Molekül und versucht, jeden Nerv in eine Wolke von blendendweißen Gasen zu zersprengen, wie in – in der Sonnenkorona (ich habe die ganze Nacht lang an Sonnenprotuberanzen gedacht, wie sie pulsieren, wie sie in Kaskaden auf der Oberfläche der Sonne hervorbrechen).
Ich erkenne, daß ich mit der ganzen Sache gescherzt habe. Ich habe sie ebensowenig ernst genommen wie irgendwas anderes in diesem Leben.
Aber dies kommt von außen! Mein Gott, woher kommt es? Und welche ungeheuren, geheimnisvollen Kräfte kann nicht ein armes, geplagtes Nervensystem produzieren. Kräfte, die ausschließlich gegen mich gerichtet sind. Ausgerechnet gegen mich!
Jetzt ist es wieder etwas besser geworden. Seit ein paar Stunden ist es tatsächlich besser. Aber mir läuft immer noch der kalte Schweiß herunter, und der Stift zittert in meiner Hand, wenn ich zu schreiben versuche.
Ich hoffe, nein, ich bin ganz sicher, daß es niemals wiederkommt, es ist bestimmt etwas zerstört worden, so endgültig zerstört, daß es nie mehr weh tun wird.
Aber vielleicht kommt es schon in wenigen Stunden wieder?
Was ich erlebe, ist ja die totale Auflösung, die totale Verwirrung.
Ich hatte ja bisher nie so recht begriffen, daß die Möglichkeit, uns selbst als etwas fest Umrissenes, Geordnetes, als menschliches Ich zu empfinden, davon abhängt, daß eine Zukunft möglich ist. Die gesamte Vorstellung vom Ich gründet sich darauf, daß es auch morgen noch existieren wird.
Dieser weißglühende Schmerz ist natürlich im Grunde nichts anderes als ein genaues Maß der Kräfte, die diesen Körper zusammenhalten. Er ist ein genaues Maß der Kraft, die mir meine Existenz ermöglicht hat. Tod und Leben sind eigentlich ungeheuerliche Dinge.
(Das gelbe Buch III:23)
»Asta Bolin behauptete nicht, eine Antwort darauf zu wissen, ob das Leiden einen Sinn hat. Das Thema des Vortrags war vielmehr um der Frage willen formuliert worden.
Dennoch hatte sie viele gute Worte zu geben, Worte des Trostes, Worte über den Sinn.
Sie erzählte, wie sie einmal, als ein Freund in tiefer Trauer das Gefühl absoluter Sinnlosigkeit hatte, in ihrer Ratlosigkeit einige Worte gesagt habe, die ihm eine wirkliche Hilfe waren. Diese Worte lauteten: ›Alles bekommt doch wohl den Sinn, den wir ihm selbst geben.‹
Asta Bolin wollte diese Worte nicht als irgendeine philosophische oder sonstige Wahrheit verstanden wissen, aber sie meinte, sie drückten doch etwas Wesentliches aus: daß man nämlich seiner Trauer gegenüber aktiv sein kann, daß man sie bearbeiten kann.«
(Das gelbe Buch: Zeitungsausschnitt aus der
Vestmanlands Läns Tidningen , 10. März, III:26)
Moorland. Sumpfland. Langsame, träge Gewässer, die sich in viele kleine Kanäle auffächern. Vögel, die hastig in einer einzigen Wolke davonstieben, wenn man sich nähert. Sanfte Winde, die das tiefe braune Wasser kräuseln. Wolken.
Einen großen Teil meiner Kindheitssommer habe ich südlich des Waldes verbracht, bei den Hüttenwerken von Ramnäs.
Es ist sonderbar, aber immer, wenn ich Trost brauche, keinen flüchtigen, leichten, sondern einen tiefen Trost, einen Trost,
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