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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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kurzen Moment zurück. Die erschöpften Matrosen in ihren zerfetzten und zerschlissenen Jacken aus gegerbtem Leder bargen gerade die Reste an Proviant und Segeln von dem Schiff, das den Strapazen offensichtlich nicht mehr lange standhalten würde.
    Der einzige, der einen völlig ruhigen Eindruck machte, war Sigismund; er hatte sich mit seinem Tonkrug und seinem Teppich auf einen Flecken von trockenem Sand ganz nahe an der schwarzen, steilen Uferböschung hingesetzt. Der Ort, die Zeit und die Situation schienen ihn nicht stärker zu beunruhigen, als wenn er sich auf einem schönen Sonntagsspaziergang befunden hätte.
    In diesem Augenblick zog er gerade eine schöne silberne Flöte aus einem verborgenen Winkel des zerschlissenen, mantelartigen Gewandes, das er trug. Er putzte die Flöte sorgfältig an einem Ärmel des Mantels, bis sie selbst in dieser eigentümlichen Novemberdämmerung mit einem sonderbaren Glanz leuchtete.
    Offenbar hatte er den Deckel des Tonkrugs geöffnet, der bei der gewaltsamen Landung wunderbarerweise nicht zerbrochen war. Er setzte die Flöte an die Lippen. Eine klagende, seltsame Melodie tönte durch das Brausen des Windes.
    – Er spielt für die Schlange, dachte Dick.
    Die beiden finnischen Matrosen, ja, sie hatten kurz vor der so unverhofften Strandung erzählt, sie seien tatsächlich finnische Matrosen und nach einem Schiffbruch vor einigen Jahren in diesem Erdteil zurückgeblieben, trugen gerade Treibholz für ein Feuer zusammen.
    – Ich frage mich, ob das klug ist, sagte Dick und zeigte auf das Holz. Es könnte sein, daß irgend jemand es sehr deutlich durch den Nebel sieht.
    Die finnischen Matrosen nickten nachdenklich. Der Kopf der Schlange erschien jetzt über dem Rand des Tonkrugs. Sie wiegte ihn hin und her.
    – Sie tanzt, sagte Dick eher zu sich selbst als zu den anderen. Ja, sie tanzt wahrhaftig!
    Im gleichen Augenblick spürte er einen schneidenden, messerscharfen Schmerz. Er ging von einem Punkt in der Gegend der rechten Leiste aus. Dick schaute sich rasch um. Er sah, wie sich rechts und links auch die anderen vor Schmerzen krümmten. Einer der finnischen Matrosen wand sich offenbar in Krämpfen auf der Erde. Das einzige Geschöpf, das ganz unversehrt zu sein schien, war die seltsame Schlange in ihrem Krug.
    Die Schmerzen waren schlimmer, als er je gedacht hätte.
    – Es gibt nur eine Möglichkeit, sagte Dick, der all seine Kraft aufbot, um überhaupt sprechen zu können. Die furchtbare Orgel muß mindestens zwei Wochen früher fertig geworden sein, als wir erwartet hatten.
    Wir müssen den Ort ausfindig machen, von dem die Schwingungen ausgehen!
    (Das blaue Buch III:1)

 
     
     
    »Bösartige Geschwulste entstehen dadurch, daß eine Zelle, eine Zellgruppe oder ein Gewebe sich aus dem Verband lösen und eine selbständige Einheit bilden, die am übrigen Organismus schmarotzt. Morphologisch zeigen diese Geschwulste eine ungeordnete und ziellose Struktur, ähnlich der von embryonalem Gewebe, ihre Zellen einen von dem normalen abweichenden Bau von unregelmäßigem, sehr unterschiedlichem Aussehen. Eine bösartige Geschwulst wuchert rasch und selbständig, unabhängig vom übrigen Organismus. Bei ihrem Wachstum zerstört sie das umgebende normale Gewebe, teils durch den Druck, der durch die expansive Vergrößerung entsteht, vor allem aber durch unmittelbare Destruktion. Die Geschwulst dringt in die benachbarten Interzellularräume, in die Blut- und Lymphgefäße teils durch haarfeine Plasmafortsätze ein, teils aber auch dadurch, daß sie einzelne Zellen oder kleine Partikel in die Blut- und Lymphbahn streut. Diese setzen sich in einem entfernteren Organ fest und bilden hier neue Geschwulstherde, welche die gleichen destruktiven Eigenschaften haben wie die Muttergeschwulst.«
    (Das blaue Buch: Abschrift aus einem
    nicht identifizierten Buch, III:16)

 
     
     
    Nach dem, was gestern geschehen ist, wird mir klar, daß ich die Schmerzen bisher nicht richtig ernst genommen habe. Ich habe nur mit ihnen gespielt. Man könnte fast sagen, daß ich mir von ihnen einen neuen Lebensinhalt habe geben lassen – der Wechsel zwischen den Tagen, an denen es nicht weh tat, und den Tagen, an denen es weh tat, war sehr dramatisch.
    Es gab ja etwas, worauf man jeden Morgen beim Aufwachen hoffen konnte, und jeden Abend beim Schlafengehen war man immer wieder genauso gespannt, ob die Nacht schmerzfrei sein würde. Manchmal vergingen ja Perioden von zwei, drei bis zu vier Tagen, ohne daß ich das

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