Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
ist eine sehr ruhige Straße, sehr ruhig, mit ruhigen Häusern, ruhigen Bäumen und von weit her die Geräusche von Schulkindern in einer Volksschule, Volksschulkinder fangen immer sehr früh am Morgen an, ob es nun Winter ist oder Frühling.
Es ist so früh, daß ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wo ich bin oder wer es ist, der mich ansieht. Gleichwohl akzeptiere ich es, gesehen zu werden; ja, wahrhaftig, ich lasse mich ansehen, und es ist ganz selbstverständlich, daß jemand mich ansehen mag. Und als ich dieses Gesicht sehe, denke ich über all die fremden Menschen nach, all die fremden Gesichter, die es geformt haben, all die fremden Jahrhunderte, die es in sich schließt.
Ich finde mich vor eine Frage gestellt, die ich nicht beantworten kann.
Im Sonnenlicht hebt sich deutlich jede der kleinen rötlichen Sommersprossen ab, ein Schimmer der großen, unregelmäßigen Zähne ist zu sehen, eine Locke fällt in die gerunzelte, mächtige Stirn, und das Gesicht sieht mich weiter ruhig an, während ich aufwache, und mein Gesicht wacht ruhig weiter auf.
So wie wenn ein fürchterlicher Lärm viele Stunden lang angehalten hat, eine Druckpresse, die sehr lange in Betrieb war, oder vielleicht ein Schiffsmotor auf einer sehr langen Schiffsreise, und dieser Lärm dann aufhört, und man sich erst nachdem es still geworden ist darüber klar wird, daß der Lärm da war, ohne daß man ihn überhaupt noch bemerkt hat.
Gerade so wird es still.
In diesem Winter dauert ein und derselbe Schneesturm praktisch Tag für Tag an, von Mitte Februar bis Mitte April.
Mitte Februar begab ich mich auf eine Irrfahrt durch die Städte, Flugplätze und Bahnhöfe Zentraleuropas, die mich zu einem einsamen Ort am Lago Maggiore führte. Ich saß dreißig Tage lang in einem Turm (einem Turm, über den ich noch mehr erzählen werde) – blauer Rauch stieg über den Weinbergen auf, zögernd zog Nebel über den großen See, in der frühlingshaft feuchten Luft schlugen die Blüten der Salweide aus, eine um die andere. Hier gab es nicht mehr nur einen einsamen Spatz auf einem Baum, sondern einen Chor von Vögeln.
Spät in einer Märznacht kam ich nach Schweden zurück: immer noch tobte der gleiche Schneesturm wie in der Nacht, in der ich abgereist war.
Nach zehn Tagen fuhr ich nach Zürich, um einem Regisseur ein Stück zu erklären, das er im Theater inszenieren sollte: die Kastanien schlugen aus, wir tranken Kaffee und Tee auf der warmen Terrasse eines Gartenlokals: die Worte flogen leicht und frisch durch die warme Luft.
Am Tag darauf, und da hatten wir schon Anfang April, war ich wieder in Schweden: der gleiche Schneesturm tobte.
Es war, als wollte er mich auf irgendeine subtile Art zur Ordnung rufen .
Herrgott! Ordnung, Ziel, Zusammenhang, Konsequenz in einem Leben, das die Außenwelt nicht einmal einen Augenblick lang eine Kontinuität, einen Zusammenhang wahren läßt!
Selbst mein Gedächtnis ist seit zwei Jahrzehnten gespalten, zerstückelt, es hat sich, um zu überleben, den Umständen angepaßt, so daß ich mich an ganz verschiedene Dinge in einem Park in Västerås, an einem Schreibtisch in Stockholm erinnere, wenn ich einen einsamen Spatz vor einem halboffenen Fenster in Berlin höre.
Das, woran ich mich an dem einen Ort erinnere, läßt sich unmöglich an dem andern ins Gedächtnis rufen: und von mir fordert man einen Zusammenhang!
(Sacht, teilnahmsvoll, freundlich:) »Die ganze Nacht lang hast du im Schlaf geredet, sehr unruhig, in einer fremden, eigenartigen Sprache, die ich nicht verstehen kann.« (Tröstend, erklärend:) »Vermutlich war es Schwedisch«.
Es geht auf Mitte Februar zu, der gleiche Schneesturm: auf dem Speicher der großen wissenschaftlichen Bibliothek in Mittelschweden treffe ich einen Archivarbeiter, den ich wiedererkenne. Es ist mein alter Freund und Schulkamerad G., der intelligenteste und vielversprechendste Schulkamerad, den ich je hatte. Er kommt mir sehr freundlich entgegen, wir halten einander mit aufrichtiger Herzlichkeit eine ganze Minute lang an den Händen. Aber wie um Himmels willen ist er hier gelandet?
Ich suche in seinem Gesicht nach den Spuren irgendeiner Katastrophe, finde aber nur Freundlichkeit und aufrichtige Freude, mich zu sehen.
Im Januar hat er nach meiner Telefonnummer gesucht, sie nicht gleich gefunden, da ich nie einen Titel benutze, hat daraus geschlossen, daß die Nummer geheim sei, und deshalb die Fernsprechauskunft nicht angerufen.
Jetzt sagt er natürlich
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