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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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sein Hauptwerk, das gerade herausgekommen ist. Es ist ein sehr umfangreiches Buch über politische Ökonomie. Durch dieses Buch macht sie mit dem klassischen Marxismus Bekanntschaft.
     
    Der Professor, anfangs über ihre hartnäckige Bewunderung verblüfft, nimmt sie eines Tages in seine Wohnung mit – sie sind nach der Vorlesung ein Stück zusammen gegangen, weil sie ihm noch ein paar Fragen stellen wollte, und der große Humanist findet sie so kompliziert, daß er unbedingt seine Bibliothek zur Hand haben muß, um sie beantworten zu können.
    Das gelbe Sonnenlicht fällt durch hohe, weiße Gardinen herein. Die Bibliothek ist sehr groß, den Arbeitstisch, der mit Manuskripten und Büchern überladen ist, ziert ein sehr moderner Briefbeschwerer, dessen äußere Schichten milchig weiß sind, mit einem inwendigen roten Würfel im Zentrum, signiert von dem venezianischen Glasbläser Venini. Der Professor sieht sich im Zimmer um, schließt die Tür, sucht in irgendeinem Bücherregal herum, kommt dann aber zurück und versucht, zerstreut und plump (und ohne jede Aggressivität), ihre Bluse aufzuknöpfen (die dunkelblau ist, sehr billig, mit einem Muster aus Maschinenstickerei).
    Sie entschuldigt sich mit einer unter diesen Umständen völlig lächerlichen Höflichkeitsfloskel und stürzt aus dem Zimmer. Sie rennt, glühendrot im Gesicht, von der Rue Monsieur Le Prince über die Rue Racine und fängt erst wieder an zu gehen, ganz außer Atem, als sie in der Rue des Quatre Vents auf der Höhe des Restaurants »Au Savoyard« angekommen ist.
    Mit einem Gefühl ungeheurer Befreiung erlebt sie jetzt Marx’ Philosophie. Sie hat ihren Vater immer geliebt, aber sie hat zugleich gelernt, ihn als aktiven Teilnehmer an einem riesenhaften Verbrechen zu betrachten. Keine von diesen Wahrheiten hat sie verleugnen können.
    Jetzt stößt sie auf einen Begriffsapparat, der es ihr zum ersten Mal ermöglicht, diese scheinbar unvereinbaren Tatsachen auf einmal zu verstehen, zu akzeptieren und zu vereinen.
     
    Ein junger Italiener, ein Student, nimmt sie mit zu einer Demonstration gegen den Krieg in Algerien, einer der letzten, riesigen. Es kommt zu gewaltsamen Schlägereien zwischen Faschisten und Sozialisten. In dem Augenblick, als sie die Polizei zum Angriff übergehen sieht, kommt ihr schlagartig zum Bewußtsein, daß sie sich hier zum ersten Mal in ihrem Leben mit denen identifiziert, die geschlagen werden.
    Während sie die Sturzhelme näher kommen sieht, versucht sie sich tastend in einer neuen Grammatik und findet ein »wir«.
    Später wird sie bewußtlos geschlagen. Die fliehende Volksmenge trampelt über sie hin. Ein Tabakhändler schleppt sie in seinen Laden.
    Dies geschieht am 14. März. Das nächste Mal wird sie bei den Osterdemonstrationen in Berlin, fast genau zehn Jahre später, bewußtlos geschlagen werden.
    Sie hat die rätselhaften Barrieren durchbrochen. Ist es so, daß sie sich selbst verständlich geworden, im Grunde aber derselbe Mensch geblieben ist? Ist sie es, die sich verändert hat, oder ist es die Geschichte?
    Schon am 31. März singt sie im Chor des Pariser Konservatoriums die Sopranstimme in Mozarts Krönungsmesse. Sie fühlt eine ungeheure, paradoxe Freude über diese feierliche, jubelnde und fremde Musik.
    Ihr Gesicht ist noch jugendlich verschwommen.
    Später wird das Profil schärfer werden und zugleich feiner und ausdrucksvoller. Der Kopf wird eine ganz andere Schwere bekommen und der Hals feine Falten. Die Augen werden eine wehmütige, eine durchdringende Schärfe bekommen, die sie jetzt noch nicht haben.
    Sie hat ein qualvolles, ein fast unerträgliches Jahrzehnt vor sich. Krankheiten, Enttäuschungen, der überraschende Tod naher Freunde.
    Noch heute leuchtet ihr schweres, kluges Gesicht vor Glück, wenn sie über diesen Augenblick spricht.
    Und noch immer verändert sie sich und wird, wenn sie intensiv einer Musik zuhört, ungeheuer schön.
    Sie ist frei.

 
     
     
    IV
    Der Verbündete
     
     
     
    der Schimmer der Abendröte,
    die sich zur Morgenröte neigt
    Ekelöf

Notizen in einer verwandelten Landschaft
     
    So mein Vergilius, so meine Wanderung, so die Kreise, die ich besuchte, so meine Zeit...
    Natürlich stellte ich mir die Frage, ob ich sie liebte.
    Nein, Heuchler, ich stellte sie nicht!
    Für so etwas haben wir keine Zeit mehr! Ich habe mir keine derartige Frage gestellt, nicht im November, nicht im Dezember, und auch nicht jetzt im März, wo ein leichter Nieselregen auf den Lago Maggiore

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