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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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fällt.
    (Duft von Rauch in den kahlen Gärten, von blauem Rauch, von Frühling, von Nebel, von trockenen Bergen, die der Regen durchtränkt.)
    Ich habe diese Frage niemals gestellt: sie wurde mir gestellt, im gleichen Augenblick, als sie sich in jenem Flugzeug neben mich setzte und ich den Kopf an ihre Schulter lehnte und das starke Schlagen ihres Herzens hörte.
    Ich frage mich nicht, ob ich jemanden liebe. Wenn ich das täte, wäre nicht ich es, der die Frage stellte, Hunderte von betagten Romanen, Filmszenen, verstaubte Dramen, Zahnpastareklamen würden an meiner statt fragen.
    Ich stelle keine Zahnpastafragen.
    Wir müssen es uns abgewöhnen, die sinnlosen Fragen zu stellen, die man uns statt der wirklichen Fragen suggerieren will. Wir müssen lernen, mit eigenen Worten zu sprechen: mit eigenen Worten zu leben.
    Wir müssen...
    uns weigern, uns von einer toten Grammatik beherrschen zu lassen.
    Wir müssen unsere eigene Sprache sprechen (die schmerzhafter ist) und unsere Gefühle in ihrer ganzen Tiefe kennenlernen (was schmerzhaft ist).
    Eine unmögliche Liebe?
    Ja natürlich! Unmöglich für die Zahnpastareklame und unmöglich auch für mich.
    Aber nur aus dem Grund, weil wir aller Wahrscheinlichkeit nach in einer historischen Epoche leben, in der Liebe überhaupt unmöglich und jede Liebe dazu verurteilt ist, an ihrem Anfang stehenzubleiben, Verliebtheit zu sein.
    Wir sind dazu verurteilt, am Anfang zu leben.
    Das ist unser Sinn.
    Ihr besteht darauf? Ihr möchtet unbedingt einen Liebesroman erzählt bekommen? Aber ihr habt doch schon so viele davon gelesen!
    Ja, ich liebte sie.
    Aber man tauscht nicht eine lebendige Sprache gegen eine tote.
     
    Also fühlte ich Schmerz, Verwirrung, Unruhe: ich wurde gezwungen, mich langsam zu verändern.
    Daher diese Kreise, diese Zeit, diese Prüfung, dieser Vergilius.
    Seit jenen Oktobertagen war sie bei mir, so greifbar, als säße sie neben mir mit ihrem schweren, preußischen, rothaarigen Kopf auf dem gebogenen Hals und ihren kräftigen Schultern, so greifbar, als starrten ihre großen, tiefblauen Augen unverwandt in die meinen.
     
    Und natürlich sollte ich sie wiedersehen. Aber das ist eine andere Geschichte, die ihr zu gegebener Zeit auch zu hören bekommen werdet. Ihr müßt Geduld haben: ich gebe mich nicht mit Zahnpastareklame ab.
    Ihr werdet es zu hören bekommen, das Ganze, wie wir auf einem Hohlweg nach links abbogen, wie sie die Führung übernahm und mir voranging und wie wir schließlich einen Schimmer des sternenübersäten Nachthimmels sahen.
    (Warum sollte ich mit einer gewohnten Regel brechen, wenn ich weiß, daß es euch unterhalten könnte?)
    Ja, ich liebte sie. Aber ich tausche nicht eine lebendige Sprache gegen eine tote.
     
    Es wurde natürlich, ich hatte es die ganze Zeit schon gewußt, ein furchtbarer Winter. Die Schneestürme lösten einander ab, das Thermometer vor dem Haus sank auf zwanzig, neunundzwanzig, dreißig Grad. Über die spiegelglatten Landstraßen glitt in kleinen Strudeln und Strömen der aufgewirbelte Schnee.
    Man lieferte uns dem Winter aus.
    Das Autofahren auf den spiegelglatten Winterstraßen, im Schneetreiben, wenn gerade die erste Dunkelheit hereinbricht, versetzt mich in einen eigentümlichen Zustand der Ausgelassenheit.
    Wenn man in der Dämmerung an einem sehr kalten Januartag auf einem großen västmanländischen See von einem lange genug anhaltenden Schneesturm überrascht wird und die Richtung verliert...
    Welche Wollust!
     
    Ganz allmählich, in diesem Winter, diesem Januar, in den wenigen hellen Stunden zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, mitten in dem Frost meines vierunddreißigsten Winters wurde mir, glaube ich, zum ersten Mal in meinem Leben bewußt, in welch ungeheurem Ausmaß meine Phantasie im Dienste des Todes stand. Nicht nur in seinem Dienst stand: von ihm geknechtet worden war.
    Ich bin überzeugt, daß ich schon als Vierjähriger mit dem Selbstmord als einer Möglichkeit zu rechnen begonnen habe, als realistische Komponente meines Lebens, als etwas Zugehöriges.
    Es gab eine Formel: ich will sterben –
    und diese Formel war immer zur Hand, um mich freizumachen von der Welt, sie war da an den schwarzen Dezembermorgen, wie ein kleiner bitterer Tropfen im Blut (wie der kleine bittere Tropfen der Beerenwanze), sie war in den nackten Zweigen, in den stierenden Fenstern, sie war in meiner Prosa, sie war in den Zeilen meiner Gedichte, in meiner müden Stimme. Alles andere kam und ging, aber diese Formel

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