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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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nicht, was er gewollt hat.
    Was hat er gewollt?
     
    Ein Gefühl, daß alles eilt, immer mehr eilt, daß Liebe, Wärme, Vertrauen nottun: daß wir dies alles sehr schnell etablieren müssen, ohne Rücksicht auf alle Regeln und gegen den Willen derer, die uns daran hindern wollen, die uns vorschreiben wollen, wie diese Sprache zu sprechen sei.
     
    Jetzt habe ich sein Gesicht, fragend, freundlich, ganz deutlich vor mir. Es sind nur drei Minuten oben auf dem Speicher einer Bibliothek, wo die Archivarbeiter sich aufhalten. Ich kann ein Bild davon festhalten, sehr deutlich, fünfzig, sechzig Sekunden lang, es füllt sich von selbst mit den Einzelheiten.
    Dann verschwindet es wieder.
     
    Eine mnemotechnische Übung. Auch die Liebe kann als eine mnemotechnische Übung angesehen werden.
     
    Ein Heimatland ist nichts anderes als ein System von Gewohnheiten. Das Überraschende, manchmal Überwältigende an einer Reise in ein fremdes Land ist, daß man gezwungen wird, sie zu ändern, ob man will oder nicht. Eine Neurose ist nichts anderes als ein System von Gewohnheiten. Eine entschlossene Übung mit unseren eigenen Erinnerungen würde – sie nicht verändern –, denn das können wir nicht, würde uns aber vollkommen klarmachen, daß unsere Leben verändert werden müssen.
    Wahrscheinlich war es dies, worauf die psychoanalytische Schule aus war. Da sie einen Gesprächsstoff für den Arzt und den Patienten brauchte, erfand sie also die »Neurose«.
     
    Mit dem gleichen Nachdruck, mit dem Kant fragt:
    – Sind also synthetische Urteile a priori möglich? muß ich wieder und wieder fragen:
    – Ist also Liebe in dieser Gesellschaft möglich?
    Lautet die Antwort auf nein, so müssen wir einen neuen Menschen, eine neue Welt erschaffen.
    Dies und nichts anderes ist die schreckliche Einsicht, zu der mich die Erforschung meiner selbst gebracht hat. Wenn ihr bereit seid, mir noch ein wenig Geduld zu schenken, werde ich auch das Beweismaterial vorlegen, das vielleicht noch ausstehen mag.
     
    Ich bin mir natürlich klar darüber, daß dieses Ergebnis mir auch Gelächter und Verachtung einbringen wird. Ich habe diese Konsequenz sehr wohl bedacht und bin bereit, sie auf mich zu nehmen.
     
    (Mnemotechnische Übung: Material vom Dezember 1968, der okkupierte Teil des Jordantales:)
    Gesicht, das von einer Taschenlampe beleuchtet wird. Kopfbedeckung aus Wolle, weder Käppchen noch arabische Kopfbedeckung, also weder ein Jude noch ein Araber. Vermutlich gehört dieses Gesicht einem Drusen.
    Rechts im Graben liegt sein Lieferwagen, mit den Rädern nach oben, die sich immer noch drehen. Aus dem Laderaum ergießen sich leere Apfelsinenkisten wie aus einem Füllhorn.
    Aus irgendeinem unbegreiflichen Anlaß hat der Mann versucht, einen militärischen Straßenposten gewaltsam zu durchbrechen (Nagelteppich, Soldaten in Wollpullovern mit tschechoslowakischen Maschinenpistolen, Kohlenfeuer am Wegrand, sternklarer Himmel und nur +3 Grad C), hat sich aber im letzten Moment eines anderen besonnen und ist natürlich direkt in den Graben geschlittert.
    Wie gewöhnlich weiß ich, daß dies geschehen wird, schon als seine Scheinwerfer zum ersten Mal oben am Hang auftauchen, und bewege mich mit meinem Dolmetscher unter einem Vorwand dreißig Meter weiter fort, ein paar Minuten bevor das Unglück geschehen ist. Der Soldat in der Straßensperre wirft sich nach rechts. Hätte er sich nach links geworfen, wäre er gestorben. Er hätte sich natürlich ebensogut für links entscheiden können.
    Der Mann, der weder Jude noch Muslim, sondern vermutlich Druse ist, sitzt jetzt auf einer Kiste am Feuer. Während der diensttuende Offizier seine Papiere prüft und die Soldaten untersuchen, was von seinem Wagen übriggeblieben ist, übernehme ich es (in meiner Eigenschaft als neutraler Journalist), die große, ungefährliche Fleischwunde über seinem linken Auge zu verbinden. Das über das Auge herunterströmende Blut behelligt ihn sehr, da Blut auch eine Salzlösung ist.
    Seltsamerweise kann ich das ganz genau nachfühlen, da ich mir selbst einmal eine große Wunde an genau der gleichen Stelle zugezogen habe, 1956 bei einem Fahrradunglück in der Nähe von Järlåsa. Dies zu erklären würde jedoch Lizentiatkenntnisse der arabischen Umgangssprache erfordern. Ich halte die Taschenlampe in der linken Hand, den Wattebausch mit Desivon oder was zum Teufel die israelische Heimwehr auch immer in ihren Verbandskästen hat, in der rechten Hand.
    Um zu zeigen, daß ich nicht

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