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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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lernen.« Damit erhob sie sich, das Dienstmädchen kam herein, und der Abend war vorüber.
    Am nächsten Tag war er wieder da, unerschrocken und jederzeit bereit, einen Cyrano zu engagieren, um mit ihm seine Ansprachen zu proben, aber den Sozialismus bekam er einfach nicht aus dem Kopf. Am Nachmittag führte er Katherine und Mrs. Dexter ins Museum, und er sagte kluge Dinge über Tizian, Tintoretto und die flämischen Meister, er erzählte ihnen von seinen Erfahrungen als Schüler von Monsieur Julien in Paris, doch unweigerlich wandte er sich wieder dem Wohlfahrtsstaat und dem Reformismus zu, denn was war die Kunst letzten Endes, wenn nicht ein Spielzeug für reiche Leute? Katherine konnte an diesem Abend nicht mit ihm essen gehen – sie mußte sich für die Vorlesungen des nächsten Tages vorbereiten –, und so saß er versonnen bei einer langen, faden Mahlzeit, die er dreimal unterbrach, um seiner Mutter per Kabel von Katherine zu berichten, von ihrer Vollkommenheit, ihrer Intelligenz, ihrer Schönheit, und seine Mutter kabelte unverzüglich zurück: KRANK VOR SORGE UM DICH STOP SEIT EINER WOCHE KEINE NACHRICHT STOP HOECHST PFLICHTVERGESSEN VON DIR STOP KATHERINE WER? STOP DEINE DICH LIEBENDE MUTTER .
    Danach – er konnte sich einfach nicht beherrschen; er hatte das Gefühl, er müsse platzen wie eine zerkochte Kartoffel, wenn er diese fahle Hotelzimmerwand auch nur eine Sekunde länger ansah – unternahm er einen Spaziergang zu Katherines Haus. Einen Spaziergang, sonst nichts. Zur Verdauung. Für seine Gesundheit. Kein Gedanke an Spitzelei oder daran, daß er zufällig Butler Ames und Konsorten auf ihrer Türschwelle antreffen oder Katherine dabei erwischen könnte, wie sie in Abendgarderobe in eine Kutsche stieg, nichts dergleichen. Es regnete wieder. Er hatte seinen Schirm vergessen, und der Zylinder drückte auf seinen Kopf wie ein bleiernes Gewicht, sein Mantel war an den Schultern völlig durchgeweicht, als er Katherines Häuserblock zum achtenmal umrundete. Und gerade als ihm bewußt wurde, wie die Nässe langsam seine Kleidung durchdrang, da kam er – rein zufällig – am Eingang von Mrs. Dexters gepflegtem, adretten schmalen Steinhaus in der Commonwealth Avenue Nummer 393 vorüber.
    Katherine hatte sehr deutlich gesagt, sie habe keine Zeit für ihn, und das achtete er auch, doch, das tat er, er konnte sich aber dennoch nicht daran hindern, die Stufen hinaufzugehen und auf die Klingel zu drücken. Alles mögliche schoß ihm während der Pause zwischen dem Klingeln und dem Erscheinen des Dienstmädchens durch den Kopf – Visionen von Butler Ames mit seinen Glupschaugen und den schlaffen Händchen, wie er Katherine auf einer Schachtel Pralinen liebte, von Katherine mit neunzehn gesichtslosen Bewerbern vor dem Traualtar, von Katherine beim Tanzen, jetzt in diesem Moment, statt über einem Stapel wissenschaftlicher Texte voller Diagramme der inneren Anatomie von Eidechsen, Schildkröten und Schlangen zu brüten –, doch da kam schon das Mädchen mit ihrem rührseligen Lächeln, die Eingangshalle, und schon eilte ihm Mrs. Dexter entgegen und begrüßte ihn, als hätte sie ihn nicht sechs Stunden, sondern sechs Monate lang nicht mehr gesehen.
    Sein Lohn dafür, daß er den Elementen getrotzt hatte, war ein Tête-à-tête mit Mrs. Dexter, das sich bis nach elf Uhr erstreckte (war es nicht erst fünf nach acht gewesen, als er kam?), dazu gut sechs Liter brühheißen Tee und der allgegenwärtige Teller mit Mohnkeksen und Sandwiches, die inzwischen labbrig und an den Rändern etwas unansehnlich waren. Mrs. Dexter gab Aussprüche von sich wie: »Wissen Sie, in letzter Zeit hat Katherine derartig viel Herrenbesuch, daß sie noch eine Lotterie wird abhalten müssen, wenn sie jemals heiraten will.« Und: »Dieser Butles Ames ist ein reizender Bursche, wirklich ganz reizend, meinen Sie nicht auch?« Und: »Habe ich Ihnen schon erzählt, wie Katherine ihr erstes Angorazicklein gesehen hat – sie war damals drei, oder war sie schon vier?« Immer höflich, saß Stanley steif wie ein Pfosten da, gab dann und wann einen zustimmenden Kehllaut von sich, sonst aber hatte er nicht viel zu sagen – weder über den Progressivismus noch über Butler Ames oder irgend etwas anderes.
    Schließlich, um halb zwölf Uhr nachts, kam Katherine in einem Paar Pantoffeln ins Zimmer, ihre Mutter fuhr hoch, als wäre sie gebissen worden, und verschwand prompt. »Stanley!« sagte Katherine und streckte ihm die Hand entgegen, die er im

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