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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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einer höchst amüsanten Aufführung von The Importance of Being Earnest ein. Jedenfalls fand Stanley es amüsant, und Katherine schien sich auch zu vergnügen, sie lachte an den richtigen Stellen, aber er befürchtete, sie könnte es für zu leichtfertig halten, nicht genügend bedacht auf die drängenden Fragen der Zeit, und als sie wieder in ihrem Salon saßen, fing er mit Debs an, um diesen Mangel auszugleichen. »Weißt du, was ich bei Debs gelesen habe?« begann er, während Mrs. Dexter sich diskret zurückzog und das Mädchen ihnen einen Teller mit Mohnkeksen hinstellte, ehe es ebenfalls verschwand.
    Katherine saß ihm gegenüber in einem Lehnsessel. Draußen regnete es, die Straßen glänzten, der Klang von Pferdehufen wurde in der beständig tropfenden Nachtluft verstärkt. Man hörte das Getrappel – klapp-klapp, klapp-klapp –, sonst nichts, nur das Rauschen des Regens und das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. »Nein«, seufzte sie, schob die Füße unter die Röcke und machte es sich im Sessel bequem. »Das weiß ich nicht.«
    »›Die wenigen, denen die Maschinen gehören, benutzen sie nicht‹«, zitierte Stanley und beugte sich mit wissendem Blick vor. »›Den vielen, die sie benutzen, gehören sie nicht.‹ Verstehst du? Einfach, klar, brillant. Und die Konsequenz ist natürlich jene Ungleichheit, die du und ich tagtäglich sehen und verabscheuen, der aber, wie es scheint, die übrige Welt den Rücken kehrt. Er verlangt staatliche Gesetze, die gewährleisten, daß die Arbeiter gegen Berufsunfälle und Arbeitslosigkeit versichert sind, Altersvorsorgeprogramme und die Beschäftigung von Arbeitslosen durch den Staat – und bis die Arbeiter die Produktionsmittel übernehmen, fordert er eine Verringerung der Arbeitszeit in dem Maße, wie die Produktivität zunimmt...«
    Offenbar hörte sie gar nicht zu. Sie rührte mit dem Löffel in der Teetasse, ihr Blick ging in eine vage Leere.
    »Er sagt«, fuhr Stanley fort, »er sagt...«
    »Stanley?«
    »Ich – äh... ja?«
    »Bitte versteh mich jetzt nicht falsch, aber sosehr ich dein Engagement für progressive Anliegen bewundere, ehrlich, das tue ich... sag, fragst du dich eigentlich nie, weshalb du so – nun, so besessen davon bist?«
    »Ich? Besessen?«
    Da lachte sie auf, und er wußte nicht, ob er mitlachen oder sich darüber ärgern sollte, denn sie hatte es vielleicht als Spitze gemeint, als winzigkleinen scharfen Stachel, der seine Haut ritzen sollte, um eine Wunde zu verursachen, die dann immer größer würde, bis sie so breit war, daß jeder Butler Ames dieser Welt mitten hindurchmarschieren konnte. Seine Miene verriet nichts. Er griff nach einem Mohnkeks und hob ihn halb zum Mund, bevor er es sich anders überlegte und ihn behutsam auf den Teller zurücklegte.
    »Könnte es vielleicht eine Abwehrreaktion sein? Ich meine, weil du und ich soviel haben im Gegensatz zu den Armen?«
    »Na ja, ich... Ja, natürlich. Mein Vater, weißt du, der ist schuld. Er wollte keine Gewerkschaft in seinem Werk, da waren die Haymarket-Krawalle und so, aber es ist nicht recht, überhaupt nicht. Mein Vater...«, sagte er, und dann merkte er, daß er seine Gedanken nicht weiter formulieren konnte, weil er plötzlich das Bild dieses reizbaren, herrischen alten Mannes vor sich hatte, mit seinem Spitzbart wie ein scharfes Rapier, der das ganze Haus mit seinem Gebrüll, seinem Mißmut und seiner lieblosen, erdrückenden, mächtigen Gegenwart erfüllte. »Mein Vater...« wiederholte er.
    Katherine sprach ganz leise, so leise, daß er sich anstrengen mußte, um sie zu verstehen beim Lärm des Regens, dem Pferdegetrappel, dem Ticken der Uhr, das plötzlich anschwoll, bis es eine ganze Symphonie von Uhren war, die unisono die Zeit schlugen, die Stunden, die Minuten und Sekunden zählten, die ihm noch blieben, bis sie aufstand und ihn wieder heimschickte. »Ich weiß, daß es schwer ist«, sagte sie, »aber man muß auch vergessen können. Und so großartig die Reformbewegung sein mag, gibt es doch auch andere Dinge im Leben – Musik, Malerei, überhaupt die Kunst –, und wenn ein Mann und eine Frau allein sind, wenn sie miteinander so vertraulich sind wie du und ich jetzt, findest du nicht, daß es da noch bessere Gesprächsthemen gäbe?«
    »Na ja, schon«, sagte er, aber er wußte nicht weiter.
    Wieder ein Seufzer. »O Stanley, ich kenne mich bei dir wirklich nicht aus. Du bist sehr nett, aber ich glaube ehrlich, du mußt noch eine Menge über die Kunst der Brautwerbung

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