Riven Rock
und bis auf das unaufhörliche Rauschen des Regens lag das Viertel still da. Die Ladenfassaden waren eine Wand aus nichts, in die Nacht gebohrte Löcher, und die Bäume krallten nach den trüben Kugeln der Straßenlaternen. Sein Kopf schmerzte. Der Anzug kniff in den Achseln, die Hosenaufschläge waren schon wieder völlig durchnäßt und dermaßen schwer, daß er kaum die Füße heben konnte. An der ersten Ecke blieb er stehen, um das Gesicht zum Himmel zu heben und die Nacht zu riechen, aber da war nichts zu riechen bis auf die feuchten Pflastersteine und die Kälte, falls Kälte überhaupt einen Geruch hat. So stand er lange einsam in der Dunkelheit, bis sein Kragen ganz sicher ruiniert und der Anzug endgültig eingegangen war, dann wandte er sich um und ging nach Hause zu seiner Frau.
2
Eva
Die erste Frau, die Stanley McCormick je sah – wirklich sah, so wie Adam seinerzeit Eva –, war seine Schwester Mary Virginia. Stanley war damals neun, ein schmächtiger, altkluger, verschlossener Junge mit schreckhaftem Blick und dem Drang, sich zu verstecken. Er schlüpfte gern unter irgendwelche Dinge – Betten, Sofas, wahre Bollwerke, die er aus Kissen im Salon oder aus Klappstühlen in der geräumigen Höhle des Tanzsaals errichtete. Das waren seine geheimen Zufluchtsorte, Schlupfwinkel und Verstecke, wo er seinem Bruder Harold entgehen, wohin er sich vor dem Klavierlehrer, der Gouvernante, seinen Schwestern und jenen steifen, langnasigen Figuren flüchten konnte, die gerade als Missionarin des Tages zu Frühstück, Tee oder Abendessen eingeladen waren. Vornehmlich aber konnte er, gut versteckt und sicher, mit einer Tüte saurer Drops zur Hand, vor sich ein Abenteuer von Jules Verne oder James Fenimore Cooper im milden Schein der Leselampe, seiner Mutter entrinnen. Sie, deren Liebe Stein pulverisieren und die Planeten aus ihrer Bahn werfen konnte, so daß sie auf ihn niederstürzten und ihn in seinem Bett zermalmten, sie floh er vor allem – und suchte doch vor allem ihre Gegenwart.
Es war im Mai 1884, kurz nach dem Tod seines Vaters. Im Haus herrschte Trauer – in ganz Chicago trauerte man, im ganzen Land, ja auf der ganzen grenzenlos weiten Welt –, und Stanley wußte nichts mit sich anzufangen. Nie zuvor war jemand gestorben, nicht in seiner unmittelbaren Umgebung jedenfalls, und mehr als der Tod selbst verwirrte ihn, nicht genau zu wissen, was von ihm erwartet wurde, abgesehen von einer kummervollen Miene. Sollte er sich auf die Brust trommeln und die Treppen hinunterkugeln, sich so gebärden wie Mary Virginia? Die Leute tätschelten ihm den Kopf, beugten sich herab, um ihm etwas ins Ohr zu raunen oder in seine entsetzten Augen zu starren. Sollte er weinen, wäre das angemessen? Oder den Schicksalsschlag tragen wie ein Mann?
Seine Mutter war keine Hilfe. Sie war pausenlos in Bewegung, setzte sich nicht einmal kurz hin, ihre Miene war so gramzerfurcht, daß sie aussah wie ein von Hafen zu Hafen gewuchtetes Gepäckstück, und wohin sie auch ging, immer war sie durch eine wahre Phalanx von Trauergästen von ihm getrennt – von ihm , von Stanley, ihrem letzten und jüngsten Kind, ihrem Baby. Er wollte ernsthaft sein, wollte brav sein, wollte angemessen trauern, sich in der Situation bewähren, ihr Freude bereiten, doch jedesmal, wenn er um ihre Zustimmung heischend aufblickte, sah er nichts als Haare und Ohren und Hinterköpfe. All diese Köpfe sammelten sich um sie, sie saßen auf Schultern, die wie wandelnde Mauern anmuteten, überall erblühten plötzlich schwarze Armbänder, und auf seiner Augenhöhe sah er nichts als Hände, die wie durch einen Zaubertrick verschwanden und wieder auftauchten, Hände mit großen Knöcheln und dicken Adern, vor Juwelen funkelnd und die Getränke und Brötchen packend, die die Dienstboten inmitten des Trauerlärms eilig herbeischafften. Er stand dabei, verschüchtert, in Kniehosen und einem zu engen Hemdkragen, und versuchte sich dem Gedränge zu entziehen. Er hatte nie geahnt, daß der Tod so laut sein konnte.
Und er wurde noch lauter. Pausenlos trafen Telegramme ein, die Zeitungen brachten fette Schlagzeilen und Nachrufe auf den Titelseiten. Angestellte der McCormick-Mähmaschinenwerke schickten eine aus fünftausend makellosen Gardenien bestehende Nachbildung der Originalmaschine mit symbolisch gebrochenem Antriebsrad, und vierhundert Arbeiter schlurften feierlich in Zweierreihe am Katafalk vorbei. Präsidenten, Premiers, Sultane, Großwesire, Kaiser und Kalifen sandten
Weitere Kostenlose Bücher