Riven Rock
hörte, den ersten markerschütternden Schrei seiner Schwester. In diesem Moment verwandelte sich alles. Plötzlich war er außerhalb seines Körpers, schwebte hoch oben über dem Raum bei den aufgemalten Vögeln und sah zu, wie seine große Schwester all diese armseligen langen Gesichter mit der Gewalt ihres Kummers vernichtete.
Sie stürzte aus dem Korridor herein auf der Welle des ersten, immer noch ansteigenden Schreis, in einem schwarzen Hemdchen, das aussah wie ein Unterkleid, mit nackten Armen und bloßen Füßen, ihre Haare, wild und verfilzt, peitschten ihr ins Gesicht wie eine Geißel. Jeder im Raum, sogar Mama, die Allmächtige, stand wie erstarrt da – nein, nicht erstarrt, sondern verflüssigt wie geschmolzener Quarz und dann abgeschreckt zur zerbrechlichen Leblosigkeit von Glas. Doch dieses erste herzzerfetzende Kreischen war nichts als die Einleitung, die Ouvertüre, die Ahnung dessen, was noch kommen sollte. Der nächste Schrei, langgezogen und arienhaft, zu einem Crescendo nervenzerfetzender Klagelaute gedehnt, die klangen, als würde ein Tier lebendig ausgeweidet und gefressen, fegte über die Wände und die Decke und scheuerte all die gläsernen Mienen und glasigen Blicke blank, bis nichts anderes mehr existierte als Mary Virginia McCormick, Quell und Inbegriff allen Leids.
Ungehindert, kaum wiederzuerkennen, den Mund im Schreien verkrampft, alle Gliedmaßen zuckend und bebend wie fortgerissen von einer unwiderstehlichen Macht, so raste sie über den Teppich und durch den Dunst aus Räucherwurst und Leichenparfum, vorbei an den Trauergästen und den Leichenbestattern und den eigenen Familienangehörigen, und dann flankte sie über die Messingstange und hechtete mitten in den Sarg hinein, als spränge sie in ein Schwimmbecken. »Ich bin’s«, rief sie und schlug auf das ein, was vom Mähmaschinenkönig geblieben war, bis es für Stanleys verschwimmenden Blick so aussah, als wäre die Leiche in einer grausigen Generalprobe seiner schlimmsten Ängste zum Leben erwacht. Niemand rührte sich. Niemand atmete. »Papa«, schluchzte sie, »ich bin’s, Mary Virginia«, und ihre Hände waren an ihm, schlangen sich um den Leichnam, umklammerten die steife Kehle und den wiederbelebten Bart. »Erkennst du mich denn nicht?«
Es war eine Schande, da waren sich alle einig, denn Mary Virginia war die Schönheit der Familie, ein Wurf der genetischen Würfel, wie er sich in jeder Generation nur einmal ergibt. Und sie war ebenso talentiert wie bezaubernd, tat sich leicht mit Fremdsprachen, konnte gut zeichnen und war eine begabte Pianistin, die mit der Subtilität und dem Gefühl einer wesentlich reiferen Frau und der Wucht und Beherztheit eines Mannes spielte. Als ihr Vater starb, war sie dreiundzwanzig und unverheiratet, obwohl es keineswegs an Bewerbern gemangelt hatte, wurden doch ihre körperlichen Reize durch die Verlockung des väterlichen Vermögens noch gesteigert. In den zwei Jahren seit ihrer Großjährigkeit war dreimal um ihre Hand angehalten worden. Ihre Mutter – Nettie Fowler McCormick, eine Großmacht der Chicagoer Gesellschaft und eine Ehestifterin ohnegleichen – hatte bei allen drei Gelegenheiten den Familienrat einberufen, und jedesmal hatte Papa den Aspiranten, wiewohl diese sämtlich aus guter Familie stammten und über eigenes Vermögen verfügten, beiseite nehmen und ihm namens seiner Tochter leider absagen müssen. Und das war eine Schande, eine echte Schande. Aber die McCormicks waren gewissenhaft bis zum Starrsinn, deshalb fanden sie, daß ihnen keine Wahl blieb, als den fraglichen jungen Männern klarzumachen, worauf sie sich bei ihrer Entscheidung einließen.
Die traurige Wahrheit war, daß Mary Virginia an einer Krankheit litt, einer Krankheit, die man nicht sah, nicht sofort und nicht auf der Oberfläche. Ihre Krankheit schien sich zu vertiefen, während sie in sie hineinwuchs, schien sich zu dehnen und zu weiten, um sie aufzunehmen wie die Haut einer Anakonda. Seit ihrem dreizehnten Geburtstag war sie zunehmend weggetreten, hatte sich von der Welt der Menschen, der Dinge und Verpflichtungen entfernt, als wäre ein wichtiger Strang in ihrem Gehirn gekappt worden. Es gab Zeiten, da erkannte sie nicht einmal ihre Eltern, die Gouvernante oder die eigenen Geschwister. Sie aß nicht mehr. Sprach nicht mehr. Stundenlang kauerte sie über einem aufgeschürften Knie und betete fanatisch, ja hysterisch, sang den Namen des Herrgotts vor sich hin, bis er wie ein Fluch klang. Zu anderen
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