Riven Rock
Kondolenzschreiben. Cyrus Hall McCormick, Erfinder der Getreidemähmaschine, Multimillionär und Träger des Kreuzes der französischen Ehrenlegion, dieser schrullige, stiernackige, lieblose, rheumatische, asthmatische alte Tyrann war mit fünfundsiebzig verstorben. Er war tot, und nun lag er im Salon in seinem Sarg, bleich wie eine Kröte in einem Glas mit Formalin.
Als für Stanley die Zeit kam, ihm die letzte Ehre zu erweisen, wurde er von seinem großen Bruder Cyrus jr. in den Salon geführt. Cyrus jr. war damals ein bärtiger junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, der nun urplötzlich ein Unternehmen mit einem Jahresumsatz um die fünfundsiebzig Millionen Dollar zu leiten hatte und von dem alle meinten, er sähe aus wie der Papa. Stanley sah diese Ähnlichkeit nicht. Sein Vater war ein alter Mann gewesen, der älteste Mensch überhaupt, den er je gesehen hatte – fünfundsechzig, als Stanley geboren wurde, siebzig, als er langsam begriff, wer er war, und am Ende schließlich ein fleischloses, seelenloses Kunstwesen, ebenso uralt und unergründlich wie ein fossiles Dinosaurierei. Stanley mochte Dinosaurier – er träumte gern von den scharfen Reißzähnen der großen Fleischfresser unter ihnen und von den Panzerplatten, mit denen sie sich schützten, sogar die langsamsten und allerkleinsten – aber seinen Vater mochte er nicht. Oder hatte ihn nicht gemocht.
Und als er sich dem Sarg näherte, Cyrus’ mächtige, weiche Hand im kraftlosen Griff seiner eigenen brannte wie ein Ofen, wie eine Dampfmaschine, wie flüssige Lava, da empfand er nichts als Schuldgefühle. Keinen Kummer, keinen Verlust, nur Schuld. Die Leute sahen ihn an und hielten ihn für einen trauernden Sohn, aber sie wußten nicht, daß Stanley, wenn seine Mutter allabendlich die Familie zusammengerufen hatte, um für die Genesung des Vaters zu beten, den Kopf gesenkt und Gott angefleht hatte, er möge den alten Mähmaschinenkönig für immer zu sich holen. Und Gott hatte ihn erhört, denn Stanley liebte seinen Erzeuger und Ernährer nicht so, wie es einem Sohn anstand – er fürchtete ihn, fürchtete und verabscheute ihn, und er schrak zurück vor seiner dröhnenden, keuchenden Stimme, vor den knorrigen, wie mit Lack überzogenen Händen und diesem Geruch nach etwas Totem, Verwesendem, der wie ein Gift aus den geblähten, haarigen alten Nasenlöchern strömte. Es war gräßlich, seinen Vater nicht zu lieben, eine Sünde, die durch alle Spalten der Hölle widerhallte und dem Teufel selbst in den Ohren gellte. Stanley war ein Vatermörder, ein undankbarer Wurm. Und dabei war er erst neun Jahre alt.
Aber dort stand er, der Sarg, riesengroß wie ein Schiff und so blank poliert, daß man sich darin spiegeln konnte, nicht nur in dem Messing oder Gold oder was immer es war, sondern sogar im Holz. Der Sarg stand auf einem Podest in der Mitte dieses so vertrauten Raumes mit den alten französischen Möbeln, den getäfelten Wänden und der gewölbten Decke, die mit einem sommerlichen Himmel bemalt war, samt Schäfchenwolken und fliegenden Vögeln, und das alles ließ ihn noch größer wirken. Dies war das Schiff, in dem der Mähmaschinenkönig seine letzte Reise antreten würde, hinab an jenen Ort, wo es immer dunkel und feucht war, wo die Insekten sich in sein Fleisch fressen würden, um dort ihre Eier zu legen... und dann hinauf in den Himmel, weil Stanleys Vater ein guter Mann gewesen war, der der Menschheit wie auch dem lieben Gott gedient und Zehntausende gespeist hatte, genau wie Jesus Christus – das wußte Stanley und würde es niemals abstreiten. Er wußte es, weil seine Mutter es ihm erzählt hatte. Wieder und wieder hatte sie es ihm erzählt, so daß er mit einer ganzen Litanei über die Güte seines Vaters aufwuchs, die er dann mit dem lebendigen Exemplar dieses griesgrämigen, verbitterten, unversöhnlichen alten Mannes vergleichen konnte, der im Flur oben in seinem Rollstuhl kauerte.
Stanleys Beine waren wie aus Blei, die Füße wie am Boden festgeklebt. Es mußten an die zweihundert Menschen anwesend sein, Freunde, Verwandte und Fremde drängten sich Schulter an Schulter, und er konnte ihnen nicht ins Gesicht sehen, konnte nicht einmal den Kopf heben. Er betrachtete seine Füße, verlor sich im Glanz seiner Knöpfstiefel, die im Teppich versanken und wieder hervorkamen, versanken und hervorkamen, Schritt für Schritt, näher und näher. Die Getränke und Brötchen waren jetzt abgetragen, doch das ganze Haus roch noch danach, besonders
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