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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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erstaunliches Haar, genau von der Farbe reifer Pfirsiche – und an das Medaillon mit der Miniatur von Florence Nightingale darin, der Lady mit der Lampe, das sie immer trug. O’Kane wußte von diesem Medaillon, das zwischen ihren Brüsten hing, weil er damit gespielt hatte, und er kannte den süß-sauren Geschmack ihres Mundes, wie ein frisch aufgebrochener Apfel, und ihren merkwürdigen wilden Duft, wenn sie erregt war. Das war noch bevor Mr. Stanley McCormick sie erwischt hatte – und wie ihm das gelungen war, konnte sich niemand erklären. Aber er hatte sie erwischt, und wenn sie sich nicht lange genug hätte losreißen können, um nach Hilfe zu schreien, dann wäre es ihr übel ergangen, wirklich übel, so daß man am Ende die Polizei und vielleicht sogar den Leichenbeschauer hätte holen müssen... Jetzt war sie wieder zu Hause, in Rhode Island bei ihrer Mutter, aber wie sie damals ausgesehen hatte, wie ihr Blick ins Leere gegangen und alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war, so daß sich jede Wimper und jedes Haar auf ihrem Kopf wie Pinselstriche in Öl abgezeichnet hatten, daran erinnerte er sich jetzt mit unendlicher Traurigkeit.
    Vorne an der Theke stimmten zwei Betrunkene in Arbeitskleidung gerade eine klagende, etwas holpernde Version von »In the Sweet By and By« an, die Köpfe tief auf den polierten Mahagonitresen gesenkt, und mit einem Mal wurde O’Kane so deprimiert, daß er sich fühlte, als wäre ein Berg über ihm zusammengebrochen. Er machte einen Fehler, da war er sich sicher, das Ganze war verkehrt, absolut falsch und nicht wiedergutzumachen, und Kalifornien war kein Traum, sondern ein Alptraum, eine gefährliche Falle. Mit einemMann wie dem. Arabella Doane, Katherine Dexter McCormick. In the sweet by and by , sangen die beiden, und jetzt fiel ein Chor von rauhen, whiskeygeschwängerten Stimmen in ihr Lied ein, die der Verheißung des Refrains hohnsprachen: We shall meet on that beautiful shore.
    Dann aber stieß Pat seinen Bruder an und sagte: »Der Bursche ist gestört, Nick – das kannst du ihm doch nicht zum Vorwurf machen. Er braucht Hilfe, sonst nix, genau wie jeder andere Patient.«
    »Stimmt«, hörte sich O’Kane sagen, und damit war der Augenblick vorbei. Arabella Doanes Schicksal war bedauerlich – eine maßlose Scheußlichkeit –, jetzt aber hatten sie eine Mission, und diese Mission hieß Mr. Stanley McCormick. Er sollte wieder gesund werden – dafür würden sie sorgen –, und wenn er wieder gesund war, würde er sie belohnen, und dann würden sie ihre Orangenhaine und Bungalows und so weiter bekommen. Das war’s, darum ging es.
    Plötzlich, vielleicht lag es am Whiskey – gewiß war es so, natürlich –, fühlte er sich von einer eigenartigen pulsierenden Begeisterung gepackt, die wie eine Rakete in ihm losging, und er konnte kaum an sich halten. Am liebsten wäre er aufgesprungen, um zu tanzen, eine Parade anzuführen, in einem Faß den Niagarafall hinunterzurollen. »Komm schon«, sagte er, »Kopf hoch, Nick. Schließlich sind wir hier, um zu feiern, oder?« Und im nächsten Moment, vom raschen Aufstehen pochte das Blut in seinen Ohren, war er auf den Beinen und grölte: »Wer trinkt mit mir?« Und schon standen die Thompsons von ihren Stühlen auf wie zum Leben erwachte Denkmäler, und sie stießen mit ihren Bierkrügen an, daß es nur so schepperte. »Auf Kalifornien!« brüllte er, und seine Stimme schwang sich eine Oktave empor, um die Grabesmelodie der zwei Besoffenen an der Theke zu übertönen. »Auf Kalifornien!«
    Jetzt aber waren nur noch O’Kane, Mart und der Hering übrig. Die Sänger hatten sich längst verabschiedet, ebenso wie Nick und Pat und Dr. Hamilton. Die Cracker waren altbacken, das Ei schmeckte wie Zellstoff. Und hier kam das letzte Bier, serviert auf einem feuchten Korkuntersetzer, genau wie das erste. Er hob es an die Lippen, aber es roch irgendwie komisch – es roch nach Essig, nach Schimmel, wie die warme gelbe Flüssigkeit in dem Glas des Schimpansen damals –, und er stellte es unangetastet zurück, stand ruckartig vom Tisch auf, verabschiedete sich von Marts gespenstisch verschwimmenden Augen und bahnte sich einen Weg zur Tür, wo ihm irgendwer praktischerweise Hut und Mantel entgegenschob. Und dann war er draußen, fünf Querstraßen von zu Hause, und der Wind trieb ihm den Regen in den Kragen.
    Es war gar nicht so spät – 21.30 zeigte seine Uhr –, aber es war niemand mehr auf der Straße, nicht mal die Einsamsten der Stadt,

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