Riven Rock
zitternd, sein Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft, die Augen schmerzten in den Höhlen. Es war niemand zu Hause, und das Mädchen ließ ihn nicht herein, also setzte er sich wie in Trance auf die Stufen und sah zu, wie die Eisschicht auf einer Straßenpfütze dicker wurde, bis Katherine heimkam und ihn so antraf. »Ich kann nicht zulassen, daß du es tust«, sagte er und erhob sich in einem Delirium aus Scham und Selbstverleugnung von dem kalten Stein.
Sie trug Pelzmantel und Schal, die Krempe ihres Huts flatterte im Wind, der vom Meer her durch die Straßen pfiff. »Daß ich was tue?« fragte sie. »Wovon redest du nur?« Ihr Lächeln erlosch. »Und was tust du überhaupt hier bei diesem Wetter – willst du dir den Tod holen?«
Geduckt, erbärmlich, verkatert, fröstelnd bis ins Mark, mit verklebten Adern und völlig tauben Fingerspitzen, konnte er die Worte nur herauskrächzen. »Daß du mich heiratest.«
Sie überlegte eine Weile, hielt Tasche und Bücher fest in den Armen, ihr Blick schweifte umher, die Hutkrempe flatterte, dann entschied sie, daß er scherzte. »Dich heiraten?« echote sie und grinste dabei. »Das hatten wir doch geklärt, dachte ich. Oder ist das ein verlängerter Imperativ des Verbs?«
»Nein, ich... so hab ich’s nicht gemeint. Ich will – ich kann nicht zulassen, daß du dir das antust, dein Leben so vergeudest an einen, an jemanden wie mich.«
Sie versuchte zu beschönigen, wollte den Arm in seinen schieben und ihn die Treppe hinaufführen, er aber riß sich los, in seinem Gesicht arbeitete es. »Stanley?« fragte sie. Und dann: »Ist ja alles gut. Beruhige dich. Komm doch, reden wir drinnen, wo es warm ist.«
»Nein.« Er stand bibbernd da und preßte immer wieder krampfhaft die Hände ineinander. In seinem Schnurrbart klebten Eisstückchen, wo der Atem kondensiert und gefroren war. »Ich verdiene dich nicht. Ich bin schlecht. Ich habe nie... ich werde niemals... Hast du meine Briefe nicht gelesen?«
Der Wind frischte auf. Auf der anderen Straßenseite gingen zwei Männer in langen Mänteln vorbei, die ihre Melonen mit den Händen festhalten mußten. Katherine sah auf einmal ein wenig unsicher aus. »Ich muß dir ein Geständnis machen«, sagte sie, dabei hielt sie den Kopf gesenkt und zupfte an den Fingern ihres Handschuhs. »Ich habe sie, ehrlich gesagt, nicht gelesen, jedenfalls nicht alle. Du schreibst wunderschön, das ist es nicht... aber sie waren alle so... ich weiß nicht, so deprimierend. Kannst du mir verzeihen?«
Stanley war wie vom Donner gerührt. Er vergaß alles – wo er sich befand, was er tat und wozu er gekommen war. »Du hast sie nicht gelesen?«
Ganz leise: »Nein.«
Ein langer Moment verstrich, in dem sie beide zitternd dastanden. Ein Paar in einer silbergrauen Viktoria warf ihnen einen pikierten Blick zu, als es mit klappernden Rädern und Hufen und Glöckchengebimmel vorbeifuhr. Stimmen spielender Kinder drangen zu ihnen, aufgeregtes Geschrei. »Nun, du solltest sie aber lesen«, sagte Stanley mit angespanntem, blassem Gesicht. »Vielleicht würdest du dann... deine Meinung ändern.«
Sie blieb standhaft, die unerschütterliche, aufrechte Katherine, und jetzt schlang sie doch den Arm durch den seinen. »Ich werde meine Meinung nicht ändern«, sagte sie. »Komm« – sehr geschäftsmäßig jetzt – »hilf mir mit meinen Sachen, bitte, ja?« Sie reichte ihm ihre Bücher, ehe er protestieren konnte, und zog ihn in Richtung der Tür.
Er schob sich die Bücher unter den Arm und ließ sich die Stufen hinaufgeleiten, wo Katherine ihre Handtasche vom Arm baumeln ließ und die Klingel drückte, statt nach dem Schlüssel zu suchen. »Die Briefe«, sagte er. Das Thema war noch nicht abgeschlossen. »Sie – sie sind noch gar nichts, sie berühren kaum das Wesentliche. Du hast ja keine Ahnung. Wie solltest du auch? Verstehst du, ich bin« – hier drehte er abrupt den Kopf von ihr weg – »ich bin sexuell verdorben.«
»Stanley, also wirklich«, sagte sie, und jetzt waren die Schritte des Hausmädchens zu hören, sie knallten im Korridor wie Schüsse. »Beruhige dich doch erst einmal – so schlimm kann es gar nicht sein.«
Er versuchte sich loszureißen, sie aber hielt an ihm fest. »Es ist schlimm«, stieß er mit einer Art Wiehern hervor, und sein gefrorener Atem entströmte ihm wie eine lebenswichtige Substanz. »Und ich muß es dir sagen, ich muß einfach.« Das Mädchen war jetzt an der Tür, der Riegel klickte bereits. »In aller
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