Riven Rock
gesetzt – zu Harold und nahmen dort ein verkrampftes Mittagessen mit ihm und seiner Frau Edith zu sich. Bei Hühnerfrikassee, gekochten Zwiebeln, Ochsenzunge und Eiscreme flammte das Wortgeplänkel erneut auf und setzte sich auch während des Verabschiedens und beim Einsteigen in die Kutsche fort. Stanley wurde nicht damit fertig. Er hätte unbezähmbar vor Freude sein, Salti schlagen und Hosiannas singen sollen, war er doch endlich mit den beiden Menschen zusammen, die ihm am meisten bedeuteten, doch statt dessen hatte er das Gefühl, er stünde mitten in einer Schlacht wie ein verwirrter Infanterist, der zwischen zwei rivalisierende Generäle geraten war. »Und Ihre Familie, Katherine? Ich hörte, daß Ihr Vater verstorben ist«, sagte Nettie, »und Ihre Mutter niemals Gesellschaften gibt«, worauf Katherine prompt zurückgab: »Erzählen Sie mir doch von Ihrer anderen Tochter, die ältere meine ich – Mary Virginia?«
Sie waren gerade in die Rush Street eingebogen, als Nettie plötzlich an die Scheibe klopfte und dem Kutscher zu halten befahl. Verdutzt kletterte der Mann vom Bock und trat ans Fenster. »Ma’am?« sagte er und entblößte nervös lächelnd die Zähne.
»Wo bringen Sie uns denn hin?«
»Nach Hause, Ma’am. Rush Street sechshundertfünfundsiebzig.«
»Rush Street? Haben Sie den Verstand verloren? Wir haben einen Gast bei uns, den wir zunächst in die Astor Street bringen müssen, zum Haus der Martins.«
»Aber Mutter«, wandte Stanley ein, »ich habe Stevens aufgetragen, dich als erste abzusetzen, weil es doch auf dem Weg liegt – ich meine, es ist doch nicht nötig, daß du...«
» Mich abzusetzen ? Wovon redest du da? Wir haben doch Miss Dexter eingeladen, also werden wir sie auch heimbringen. Wirklich, Stanley, ich bin erstaunt über dich – wo bleiben deine Manieren?«
»Nein, ich, also – ich wollte, nun, Miss Dexter selbst heimbringen, nachdem ich, nachdem wir...«
»Unsinn.«
Katherine verhielt sich still. Stevens stand draußen in der Kälte, die Pferde stampften und schnaubten, ein plötzlicher Windstoß schickte eine Salve von Laub und Papier durch die Straße. Stanley saß zwischen den beiden Frauen, er wagte Katherine nicht anzusehen, nicht auf diesem Schlachtfeld, nicht jetzt. »Ich habe nur an dich gedacht, Mutter, weil du doch ein krankes Herz hast und ich weiß, wie schlecht es für deine Beine und deinen Kreislauf ist, besonders für deine, nun, deine Füße, so... so eingezwängt zu sitzen, und ich dachte, nun, ich dachte eben, daß du es zu Hause bequemer hast.«
Er sah, wie das Gesicht seiner Mutter einen Grad härter wurde und sie dann abrupt nachgab, wie eine überspannte Feder. »Na gut«, sagte sie seufzend, und jetzt war sie die gebrechliche, sterbende Matriarchin (die sich allerdings paradoxerweise noch weitere achtzehn Jahre prächtiger Gesundheit erfreuen sollte), zu krank und entnervt, um Widerstand zu leisten. »Das ist sehr rücksichtsvoll von dir, Stanley. Fahren Sie, Stevens«, befahl sie mit matter Stimme. Und sie war geduldig, biß sich auf die Zunge, bis sie ankamen und Stanley ihr die Stufen hinauf und in die Eingangshalle des Hauses half, während Katherine in einen Pelzmantel gehüllt in der Kutsche saß und zusah, wie ihr Atem in der beißend kalten Luft kristallisierte. Dann, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte und Stanley ihr aus dem Mantel half, murmelte seine Mutter: »Ja, Stanley, du hast ja recht – und es ist so lieb von dir, daß du dich um deine arme Mutter sorgst. Natürlich kann Stevens Miss Dexter auch allein nach Hause bringen, und wir brauchen uns gar nicht darum zu kümmern, bei diesem bitterkalten Wetter und dem Wind. Es könnte sogar bald schneien, habe ich gehört.«
»Aber, aber« – Stanley hielt den Mantel seiner Mutter in der Hand, als wäre es der Pelz irgendeines wilden Tiers, das er gerade totgeknüppelt und abgebalgt hatte – »ich wollte doch, also, ich hatte vor, Katherine, ich meine, Miss Dexter – also, äh, sie heimzubringen, das heißt...«
Seine Mutter wandte ihm das bebende Gesicht zu und packte ihn am Arm. »Kommt nicht in Frage.«
»Aber nein, nein, versteh doch. Katherine wartet auf mich.«
»Blödsinn. Du wirst schön hierbleiben. In dem Wind da draußen holst du dir noch den Tod, und außerdem schickt es sich nicht, daß du ganz allein und ohne Anstandsperson mit ihr zusammen bist. Oh, vielleicht denken sich diese modernen Damen nichts dabei, aber glaube mir: ich werde so etwas nicht
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