Riven Rock
zulassen.«
Ehe er recht nachdenken konnte, hatte Stanley seinen Arm losgerissen. Das Blut stieg ihm ins Gesicht, und er hörte das Knacken der Dampfheizung und die leisen Lieder von Weihnachtssängern irgendwo auf der Straße. »Ich gehe«, sagte er, »und versuch ja nicht, mich aufzuhalten.«
Die Augen seiner Mutter loderten. Ihre Miene erinnerte an den dritten Akt einer Tragödie. Sie schwang ein imaginäres Schwert und trennte ihm den Kopf vom Rumpf ab. »Was?« fragte sie. »Du willst dich mir widersetzen?«
Stanley schob das Kinn vor. »Ja.«
Und dann rangelten sie, kämpften tatsächlich in der Tür miteinander, vor den Augen Katherines; seine Mutter krallte sich an seinen Arm, als würde sie in den tosenden Wogen versinken, die sie selbst herbeigerufen hatte, und Stanley befreite sich erneut, er wollte ihr nicht weh tun, weder körperlich noch gefühlsmäßig, aber als er sich losriß, ging sie mit einem Schluchzer zu Boden, der ihm beinahe den Atem nahm. Dies war der Augenblick der Wahrheit. Der Augenblick, auf den er seit fast dreißig Jahren gewartet hatte. Er richtete sich auf, schob die Schultern nach hinten und schlang den Schal fest um den Hals. »Ich gehe jetzt«, sagte er.
Katherine erwartete ihn. Sie sah ihn unverwandt an, als er aus dem Haus trat, die Einfahrt entlangging und wieder in die Kutsche einstieg. Er fühlte sich wie ein Held, dachte, er könne alles erreichen – den Himalaja bezwingen, eindringende Horden zurückschlagen, Schlittenhunde über die gefrorene Tundra peitschen. »Katherine«, sagte er, und der Rest des Tages und die ganze Stadt waren nur für sie da, nur für sie beide allein, »Katherine, ich wollte dir...«
»Ja?« Ihre Stimme klang leise und gedämpft, sie schwebte aus den Tiefen der sachte schaukelnden Kutsche empor, um der seinen zu begegnen. Ein versiegendes wäßriges Licht flackerte in den Fenstern. Stanley träumte, er sei in einem Unterseeboot, in dem er immer höher stieg, von allem abgeschirmt.
»Also, ich wollte dir...«
»Ja?«
»... von Debs erzählen, von Debs und dem, was er in seiner Arbeit... seiner, äh, letzten Arbeit geschrieben hat. Das war das Wichtigste, was ich...« Doch er konnte nicht weitersprechen. Nicht wirklich. Jetzt nicht mehr.
Im Februar verlobten sie sich heimlich, in Boston. Stanley fuhr Anfang des Monats mit dem Zug in die Stadt und nahm sich eine Suite im Copley Plaza. Nach einer Woche des Hüstelns und Räusperns und ausführlicher Diskussionen über Jack Londons Kindheit, die Gewerkschaftsbewegung, Kohlegruben und Staublungen und Stanleys Testament, in dem er sein Geld und sein sonstiges Vermögen gleichmäßig unter den 14000 McCormick-Arbeitern aufgeteilt hatte, stellte er ihr einen weiteren hypothetischen Antrag, und sie erstaunte und entzückte ihn mit ihrem Jawort. Allerdings nur unter der Bedingung, daß sie die Verlobung bis zum Ende des Semesters geheimhielten, da die Zeitungen sich garantiert darauf stürzen würden – PROMINENTE BOSTONIANERIN HEIRATET MCCORMICK-ERBEN –, und das wäre für sie zuviel der Ablenkung von ihrer Abschlußarbeit und dem Examen. Sie feierten sie bei einem Abendessen mit Josephine, die zu schweigen gelobte und ihnen einen atemlosen Monolog hielt über die dringende Erforderlichkeit – War das überhaupt ein Wort? –, die Dexter-Linie zu erhalten, ganz zu schweigen von den Moores und den McCormicks – Und aus welcher Familie stammte eigentlich seine Mutter? –, und wie sehr sie doch hoffte, Katherine werde nicht bei vier oder fünf Kindern aufhören, wo es doch in der Welt von Krankheiten nur so wimmelte, und wußte Stanley eigentlich, daß sie Katherines Bruder verloren hatten, diesen herzallerliebsten Jungen?
Er hatte davon gehört. Und er senkte den Kopf, zupfte bekümmert an seinen Hemdsärmeln und bot Josephine ein Taschentuch an, doch innerlich schwebte er auf allen Wolken, Hunde im Spiegel gab es jetzt keine mehr. Katherine liebte ihn. Unglaublich. Unwahrscheinlich. Unzweifelhaft, dennoch unfaßlich. Über den Tisch sah er sie schmachtend an, während der Suppe und des Fischgangs, und er schmachtete und strahlte und zwinkerte weiter, bis die Desserts zerkrümelt und die Kaffeetassen geleert waren, und nachdem sie auf das Grübchen seiner rechten Wange einen Gutenachtkuß gedrückt hatte, rief er einen alten Freund aus Princeton an und ging mit ihm bis in die frühen Morgenstunden Champagner trinken.
Am nächsten Nachmittag stand er wieder vor Katherines Tür, bleich und
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