Riven Rock
so ungestüm vom Tisch hoch, daß er ihn beinahe umwarf, wurde tiefrot im Gesicht, und wenn hinter ihm nicht eine Topfpalme gestanden hätte, wäre er wohl einfach aus dem Restaurant geflüchtet. »Adela«, flötete Nettie und versuchte Stanleys Verwirrtheit zu überspielen, während der Kellner ihren Tisch mißtrauisch beobachtete und Katherine und Josephine einander ratlose Blicke zuwarfen, »wie nett, daß Sie gekommen sind. Stanley kennen Sie natürlich bereits, und dies sind seine Gattin Katherine und ihre Mutter, Mrs. Josephine Dexter.«
Stanley streckte weder die Hand aus, noch beugte er sich vor, um die von Mrs. van Pele zu ergreifen; er stand nur mit puterrotem Gesicht da, starrte auf seine Schuhe und ballte die Fäuste. »Das ist aber nett, Sie wiederzusehen, Stanley«, sagte Mrs. van Pele und ließ sich, assistiert vom Oberkellner, auf einem Stuhl nieder, »und ich gratuliere Ihnen herzlich. Ich wünsche Ihnen das Allerbeste.«
»Ich schäme mich so«, murmelte Stanley und hob nun den Kopf, um den ganzen Tisch anzusprechen, auch den Oberkellner und den Küchenjungen. »Ich habe – ich, also, ich habe es nie jemandem erzählt, weil ich mich so schäme, aber ich war unrein und habe den Wunsch meiner Mutter mißachtet, und Ihre Gastlichkeit auch...«
»Blödsinn«, sagte Nettie, und ihre Stimme klang wie ein Peitschenknall. »Setz dich hin, Stanley. Du mußt dich für gar nichts schämen.«
Schweigen senkte sich über den Tisch, als Stanley langsam auf seinen Stuhl niedersank. Das Klappern von Besteck und das Gemurmel der Stimmen im Saal wurden plötzlich hörbar. Katherine war durcheinander. Sie wollte die Hand ihres Mannes nehmen, aber er entzog sich ihr.
»Völliger Unsinn und Quatsch«, sagte Nettie nach einer Weile, als wollte sie etwas klarstellen. »Du hast kürzlich geheiratet, Stanley. Du trägst jetzt Verantwortung – du bist kein kleiner Junge mehr.«
Der Kellner war ein paar Schritte zurückgewichen, er wand sich und schluckte vernehmlich, und Mrs. van Pele und Josephine redeten gleichzeitig los, als Stanley erneut aufstand. »Entschuldigt mich«, nuschelte er und schob den Stuhl zurück. »Ich muß mich, also, mal frischmachen – das heißt, ich meine, also, ich komme gleich wieder.«
»Setz dich hin , Stanley«, sagte Nettie und sah ihn unter dem Panzer ihres Hutes hervor an.
Stanley hörte nicht auf sie. Er zog ein langes Gesicht, seine Schultern hingen herab. Er sah sich am Tisch um, als würde er keinen Menschen erkennen, dann stapfte er quer durch den Saal, nahm die drei Stufen zum Ausgang und verschwand durch die Tür auf die Straße hinaus, ohne sich umzusehen.
Katherine war ratlos. Sie sah ihre Mutter an, dann die Missionarsgattin und schließlich Nettie: ihr Ehemann hatte sie soeben, aus einem nur ihm begreiflichen Gund, an einem öffentlichen Ort im Stich gelassen. Und das am dritten Tag ihrer Flitterwochen. Sie war wie vom Donner gerührt. »Wohin kann er nur...?« hörte sie sich sagen.
Nettie antwortete nicht.
»Er will wahrscheinlich nur ein wenig Luft schnappen«, sagte Josephine, dabei sah sie über die Schulter und zog ein Gesicht. »Es ist etwas muffig hier drin.«
Mrs. van Pele pflichtete ihr bei. Aus vollem Herzen.
Und jetzt war Nettie plötzlich auf den Beinen, eine untersetzte, forsche, breitschultrige Neunundsechzigjährige, die um etliche Jahre jünger aussah, sich nach der letzten Mode der Pariser Couturiers kleidete und das Befehlen ebenso gewohnt war wie ein Napoleon oder Kaiser Wilhelm. Allein ihr Hut – eine massive Konstruktion aus Filz, Feder und feinem Samt – hätte jedes Offizierskorps eingeschüchtert. »Adela, Josephine«, sagte sie, »würdet ihr mich bitte einen Moment entschuldigen – ich bin sicher, es geht Stanley gut; es kann allenfalls die Aufregung sein, Sie wiederzusehen, liebe Adela, noch dazu so bald nach dem Drama seiner Hochzeit, und mir wird erst jetzt bewußt, daß wir ihn nicht hätten überrumpeln dürfen –, aber ich müßte einmal mit Katherine unter vier Augen sprechen.« Sie bat Katherine mit einer Geste, sich zu erheben und ihr zu folgen. »Würden Sie kurz mit mir hinüberkommen? Es wird nur eine Minute dauern.«
Verdattert stand Katherine auf und folgte Netties resoluter, martialischer Gestalt durch den Speisesaal hinüber in den Damensalon, wo Nettie es sich in einem Plüschsessel vor einem ovalen Spiegel mit Goldrahmen bequem machte und Katherine auf den Sitz daneben winkte. Es waren noch zwei weitere Frauen
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