Riven Rock
Arm, den Mantel über den rechten geworfen, trotzdem hatten sie den ersten Zug versäumt und der Abend war ruiniert, in Katherines Augen jedenfalls. Gewiß war es befriedigend, überhaupt endlich aufzubrechen und in der Intimität des Abteils zu sitzen, mit dem Ehemann aufrecht und gesittet an ihrer Seite, auch wenn sie ihn mit ihrer Mutter teilen mußte und mit seiner, aber es war nicht, was sie sich erhofft hatte. Man machte Konversation, starrte zum Fenster hinaus auf die dunkle Landschaft Frankreichs und die vorbeihuschenden Lichter, speiste recht gut zu Abend, aber Stanley wirkte die ganze Zeit angespannt und hölzern, er nickte automatisch zu allem, was man ihm sagte, und seine Hand – die Hand, die sie in der ihren festhielt – war steif wie die einer Marionette. Aber wenn er aus Holz war, wenn er eine Marionette war, wer zog dann die Schnüre? Katherine betrachtete Netties dünnes, selbstzufriedenes Lächeln, während der Zug durch die Nacht schoß und sie sich leise über französische Malerei, Weinbergschnecken, gemeinsame Bekannte in Chicago und die mangelnde Eignung von Vögeln als Haustiere unterhielten, und dabei fühlte sie sich so deprimiert und ernüchtert wie noch nie in ihrem Leben.
Als sie endlich ankamen, war Stanley sichtlich ausgelaugt. Der Trubel der Hochzeit und des Umzugs von seinem Hotel nach Prangins für eine Nacht und dann von Prangins nach Paris hatte seine Nerven stark mitgenommen. Er war emotional labil, das wußte Katherine, und sie mochte diese Eigenschaft an ihm – er war sensibel, künstlerisch, zurückgezogen, so gütig und tolerant wie kaum sonst jemand, die Sorte Mann, von der Frauen träumen. Aber die Erschöpfung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, und als sie zu guter Letzt in ihre Suite im Elysée Palace geführt wurden, wünschte er ihr nur kurz eine gute Nacht, huschte in sein Zimmer und schloß die Tür fest hinter sich. Sie blieb einen Moment lang mitten im Salon stehen, sie war selbst wie gerädert, fand aber, sie sollte zu ihm gehen und wenn auch nur, um ihn ein wenig zu beruhigen und zu trösten, doch da hörte sie das plötzliche scharfe Schaben des Riegels, der auf der anderen Seite der Tür vorgelegt wurde, und sie sank in den nächstbesten Sessel und weinte, bis sie innerlich ganz leer war.
Am Morgen war Stanley wieder der alte, lächelnd und entspannt, und auch Katherine fühlte sich erfrischt – sie waren beide müde gewesen, sonst nichts. Beim Frühstück in ihrem Zimmer behandelten sie einander mit der übertriebenen Zärtlichkeit eines Paares, das seinen goldenen Hochzeitstag feiert, und alles schien zu stimmen, alles war, genau wie sie es sich vorgestellt hatte, zärtlich und behaglich und vertraulich. Allerdings nur, bis Nettie auftauchte. Sie stürmte um neun Uhr zur Tür herein, wollte wissen, ob Stanley seine Lebertrankapsel genommen hatte und ob sie immer noch planten, das Musée du Jeu-de-paume oder den Louvre zu besichtigen. Augenblicklich änderte sich Stanleys Stimmung. Eben noch war er fröhlich und gesprächig gewesen, hatte seinen Toast mit Butter bestrichen und sich an Indianerspiele aus seiner Jugend erinnert, bei denen er und Harold sich in den Garten geschlichen hatten, um unter den Büschen trockene Toastscheiben zu mampfen, doch nun erstarben ihm plötzlich die Worte im Hals. Nein, gestand er, den Lebertran habe er noch nicht genommen, aber die Pillen lägen irgendwo herum und er werde sie noch schlucken, und ja, sie würden in den Louvre gehen, er brauche aber noch Zeit für, äh, für sein Frühstück, und er hoffe, seine Mutter sei nicht enttäuscht, wenn sie erst um zehn aufbrächen?
Wenn Stanleys Mutter sie begleitete, dann war es nur recht und billig, daß Josephine ebenfalls mitkam, und Katherine versuchte das Beste daraus zu machen, indem sie mit ihrer Mutter schwatzte und sich auf der Fahrt in der Kutsche an Stanley schmiegte. Doch als sie durch die Säle schlenderten und Stanley leise Kommentare zu dem einen oder anderen Gemälde abgab, ergriff er unwillkürlich den Arm seiner Mutter, und Katherine bildete mit Josephine auf einmal die Nachhut. Dann folgte das Mittagessen. Nettie hatte dazu irgendeine gräßliche Missionarsgattin eingeladen, die offenbar eine Pension führte, wo Stanley seinerzeit als Schüler von Monsieur Julien gewohnt hatte. Diese Mrs. van Pele war eine plumpe, unscheinbare, rechthaberische Frau von Mitte Sechzig, und Stanley fuhr fast aus der Haut vor Schreck, als sie zu ihnen stieß. Er schoß
Weitere Kostenlose Bücher