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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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ziemlich gereizt, und nachdem sie die drei schmalen Stiegen zu den Zimmern vom Format eines Taubenschlags hinaufgekraxelt waren, sah sie sich beim Abendessen plötzlich in einen lächerlichen Streit mit ihrer Schwiegermutter über die französische Aussprache von »orange« verwickelt. Sie hatten sich alle umgezogen, ein wenig frisch gemacht und saßen bequem im Speisezimmer bei einer anständigen Flasche Schaumwein und einer recht erfrischenden Consommé madrilène, der Kellner hatte soeben ihre Bestellungen aufgenommen, als Nettie sich mit einer säuerlichen, von der Last eines schweren Tages geprägten Grimasse zu Katherine beugte und sagte: »Sie sprechen das ja wie die Ausländer aus.«
    Katherine sah zu Stanley, der aber studierte die Weinkarte so ernsthaft, als müßte er gleich in einem Quiz Fragen dazu beantworten, dann blickte sie zu ihrer Mutter, doch Josephine zuckte nur die Achseln. »Was spreche ich wie aus?«
    Nettie richtete sich auf und ließ die Zunge gegen die Zähne zischeln, um eine gehässige Parodie von Katherines Fanzösisch zu erzeugen: »Canaar à loh-raoschö.«
    »Und wie soll ich es Ihrer Meinung nach aussprechen?«
    »Wie eine Amerikanerin. Denn das sind Sie schließlich, trotz all Ihrer Genfer Allüren, und Sie sollten stolz darauf sein, so wie Stanley – bist du das nicht, Stanley?«
    Stanley sah von der Karte auf. Er wirkte verwirrt und vage schuldbewußt, als würde er wegen etwas bestraft, das er gar nicht getan hatte. »Ich – nun – ich, ja«, sagte er leise.
    »Ich bin sicher, dabei geht es doch eher um...« begann Josephine, doch Nettie schnitt ihr das Wort ab.
    »Anständige Leute«, zischte sie, »reden nicht wie...« – hier hielt sie inne und sah sich am Tisch um, eine gestrenge, verhätschelte Autokratin, eine Erbin von viel Geld, vom Geld der McCormicks – »wie Franzmänner .«
    Katherine war so entrüstet, daß sie am liebsten sämtliches Geschirr auf dem Tisch zertrümmert hätte und ein für allemal zur Tür hinausgegangen wäre, doch sie beherrschte sich – um Stanleys willen. »Aha«, sagte sie und konnte die Verachtung in ihrer Stimme kaum verbergen, »und wie spricht man es dann aus?«
    Alle Blicke lagen auf der alten Frau mit dem eisernen Hut, und sie genoß diesen Moment, zog ihn noch ein Stück in die Länge, ehe sie sagte: »Oräntsch.«
    Und so ging es die dreieinhalb Wochen weiter, die sie brauchten, um bis nach Nizza zu kommen. Sie hockten ständig aufeinander, jedem Wetter und allen erdenklichen Straßenzuständen ausgesetzt, von Dorfstraßen mit Kopfsteinpflaster zu Viehpfaden, die mitten im Nirgendwo begannen und an seinem Ende aufhörten. Alle waren gereizt, sogar Katherines Mutter, sonst die sanfteste, gleichmütigste Frau der Welt, und gegen Ende der Fahrt wurden die Mahlzeiten in lastendem Schweigen eingenommen, unterbrochen nur von gelegentlichen gemurmelten Bitten um Salz oder Essig, die man einander in die Wunden rieb. Es war eine einzige Katastrophe. Gräßlich. Absolut gräßlich. Und Katherine, als Wissenschaftlerin immer auf der Suche nach seltenen Lebewesen, stand kurz davor, einen Artikel für die wichtigsten Zeitschriften zu schreiben, um kundzutun, sie habe das schaurigste, nervtötendste Mitglied der menschlichen Rasse entdeckt und wolle es gern beim Namen nenne, damit es sich fürderhin leicht identifizieren ließe: Nettie Fowler McCormick.
    Dann aber, wie durch ein Wunder, warf Nettie das Handtuch. Sie hatte genug. Ihre Nieren waren durchgerüttelt, die Stirnhöhlen von Staub, Schuppen, getrocknetem Pferdemist und dergleichen verklebt, die Beine gefühllos, und in ihrem Kreuzbein knisterten mehrere Lagerfeuer heftigster Schmerzen. In Nizza verkündete sie, sie wolle den Dampfer nach London nehmen und von dort in die Vereinigten Staaten von Amerika und nach Chicago/Illinois zurückkehren. Sie ließ Stanley dafür leiden, keine Frage, die beiden schlossen sich stundenlang in ihrem Hotel ein, bevor sie sich zum Wegfahren entschied, und am Tag ihrer Abreise war er so ausgezehrt von Schuldgefühlen und zwiegespaltener Loyalität, daß er kaum sprechen konnte, aber in Katherines Augen war es das wert: sie war fort. Die Hexe war weg. Nun konnte der Rest ihres gemeinsamen Lebens beginnen.
    »Mutter«, sagte sie zu Josephine, als sie am Tag von Netties Abreise in der Hotellobby mit ihr allein war, »ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll – und hoffentlich verstehst du es nicht falsch –, aber ich frage mich, ob du nicht auch ein

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