Riven Rock
Liebster«, sagte sie, in Hut und Mantel in der Tür stehend, »was tust du denn da? Weißt du nicht, daß alle auf dich warten? Wir versäumen den Zug.«
Er war hochrot im Gesicht, und eine Haarlocke hing ihm ins Gesicht. »Ich – also, es ist meine Unterwäsche, weißt du, denn ich kann bei so einem Wetter nicht einfach losfahren, ohne mir darüber Gedanken zu machen, vor allem über die Temperatur in Paris und auch die Gegebenheiten im Zug, und deshalb habe ich, also, ich brauche eben Zeit, um meine Sachen zu ordnen und zu entscheiden...«
»Deine Unterwäsche?« Sie war wie vom Schlag getroffen. »Stanley, unser Zug geht in einer Dreiviertelstunde. Wenn wir nicht in diesem Moment aufbrechen, werden wir ihn verpassen. Das ist nicht die Zeit, sich um Unterwäsche zu sorgen.«
»Nein, nein, nein«, sagte er gestikulierend, die baumelnden Kleidungsstücke über beide Arme drapiert, »du verstehst nicht. Sieh mal, ich bestelle meine langen Unterhosen nach Maß, von Dunhill & Porter in London, sie sind achtfach nach Gewicht abgestuft, um jeder denkbaren Eventualität zu entsprechen, von... von, nun, von Schnee bis zum sonnigsten Tag im August, wenn man natürlich nicht gern schwitzt...« Er stieß ein eigenartig hohles, kläffendes Lachen aus. »Verstehst du nicht?« fragte er, beugte sich über den Schrankkoffer und faltete geruhsam die Sachen in seinen Armen. Sie sah, daß er immer noch lachte, vor sich hinkicherte und dabei den Kopf schüttelte. »Sie will, daß ich friere«, sagte er in die Tiefe des Koffers, »meine eigene F-Frau.«
Sie ging durch das Zimmer zu ihm und murmelte: »Komm, ich helfe dir.« Er aber sperrte sich und drehte ihr den Rücken zu. »Stanley«, sagte sie, »bitte. Es ist überhaupt nicht kalt – draußen hat es so um die fünfzehn Grad –, und in Paris ist um diese Jahreszeit bestimmt Altweibersommer...«
Er achtete nicht auf sie, sondern faltete und entfaltete ständig seine Unterwäsche, trug sie von einem Koffer zum nächsten, und hatte er sich einmal für einen Platz entschieden, nahm er sie gleich wieder heraus und begann den ganzen Vorgang von vorn.
»Wir werden den Zug versäumen«, sagte sie. »Stanley. Hast du gehört? Wir werden den Zug versäumen !«
Sein Blick ging plötzlich zu ihr, und es lag ein bittender Ausdruck darin, eine Miene, die um Hilfe flehte und sie zugleich ausschlug. »Ich kann nicht«, sagte er. »Ich – ich bin nicht fertig. Ich kann nicht.«
Nun drang die Stimme ihrer Mutter durch das Treppenhaus, ein fragendes Tremolo: »Katherine?«
»Laß doch«, drängte ihn Katherine. »Das soll dir das Personal nachschicken. Wir kaufen dir neue Sachen, sobald wir angekommen sind, bessere Wäsche, Pariser Wäsche, und das hier wird alles mit dem nächsten Zug nachkommen, falls du es noch brauchst. Komm«, sagte sie und ergriff seinen Arm, »komm doch, Stanley, wir müssen gehen.«
Er war nicht gewalttätig, nicht grob, er war weder grämlich noch gereizt, trotzdem rührte er sich nicht von der Stelle. Er blickte von seiner Höhe zu ihr hinab, sah auf ihre Hand auf seinem Arm und sagte ganz einfach: »Nein.« Dann entwand er sich ihr und ging durchs Zimmer zu seinen Koffern, wobei die leeren Beine der Unterhosen hinter ihm herschleiften wie Fahnenwimpel.
Mit einem Mal wurde sie wütend. »Stanley!« schnappte sie, und es übermannte sie, Hochzeitsreise oder nicht. Sie stampfte mit dem Fuß auf; ihre Stimme schraubte sich eine Oktave höher. »Du hörst jetzt auf damit!« schrie sie, schrill wie ein Fischweib, und das am zweiten Tag ihrer Ehe, doch sie war mit der Geduld am Ende, der Zug fuhr gerade in den Bahnhof ein, und sie wollte los, wollte aufbrechen, ohne dieses vertrödelte, wankelmütige, neurotische Gehabe.
Sie wollte gerade auf ihn zumarschieren und ihn wieder am Arm ergreifen, als sie ein Geräusch hinter sich hörte und sich umwandte, weil sie dachte, es sei ihre Mutter. Es war nicht ihre Mutter. Es war Stanleys Mutter, Nettie, die Hexe persönlich, der Regen lag in winzigen Perlen auf ihrem Hut und bildete einen feinen, funkelnden Schleier auf dem Kragen ihres Pelzmantels. Ihr Kinn war naß, und ihr Mund bewegte sich kaum, als sie sprach. »Ich übernehme das«, sagte sie.
Nettie brachte Stanley dann schließlich in Gang – wie, das sollte Katherine nie erfahren –, und innerhalb einer halben Stunde kamen sie zusammen aus dem Zimmer, alle Koffer ordentlich gepackt, verschlossen und neben der Tür aufgestapelt, Stanley mit Nettie am linken
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