Riven Rock
akzeptieren und in ein völlig neues Leben entschwinden können, ihr eigenes Leben, erneut verheiratet und gesichert, in ein Leben mit Babys und Windeln und Ammen, Kinderwagen, Lesefibeln und kleinen, leblosen Porzellanpuppen mit kleinem, leblosem Lächeln auf den starren Gesichtern. Aber sie tat es nicht. Konnte es nicht tun. Sie hatte ihre Wahl getroffen, und sie würde damit leben.
Sie und Stanley nahmen getrennte Kabinen, als sie im Frühjahr 1905 auf der Brittania in die Staaten zurückfuhren, und nie stand sie so dicht davor wie damals, es mit ihm ganz aufzugeben. Es war eine rauhe Überfahrt, der Atlantik schwarz und ruppig, der riesige, bebende Dampfer aus Stahl wurde aus dem Wasser gehoben wie eine Feder auf einem Fischteich und dann wieder nach unten gedrückt, daß die stählernen Decks alle klatschnaß wurden und der Wind die brodelnde Gischt durch die Luft jagte. Ihr war in einem fort übel. So speiübel, daß sie es kaum schaffte, zur Toilette zu kriechen und einen Klumpen Nichts in das nach Meer stinkende Vakuum vor ihrem Gesicht herauszuwürgen. Stanley stürmte immer wieder in ihre Kabine – ob um zwei Uhr nachmittags oder um zwei Uhr früh, das war ihm gleich –, immer bleich bis in die Haarwurzeln, seine Füße hafteten auf dem schwankenden Deck, als wäre er eine Fliege auf einer Fensterscheibe. Sie roch nach ihrem Erbrochenen. Es war ihr peinlich. Einmal war er rührend besorgt um sie, half ihr in die Koje, tupfte ihr mit einem warmen Waschlappen die Wangen ab, und im nächsten Moment schrie er sie an: »Hure! Du Hure Babylon!« Brüllte es, heulte es heraus, mit rot angelaufenem Gesicht und fuchtelnden Fäusten.
Als sie an Land gingen, fuhr sie schnurstracks zu ihrer Mutter – es war nun keine Rede mehr von dem Haus, das sie in Marion geplant hatten, keine Rede von einem Zusammenleben überhaupt –, und Stanley kehrte nach Chicago zurück. Zur Harvester Company. Zu seinen Pflichten. Zu seiner Mutter. Katherine verließ eine Woche lang nicht das Bett. Sie weinte, bis sie keine Flüssigkeit mehr im Leib hatte, und ihre Mutter und das Dienstmädchen stärkten sie die ganze Zeit mit Brühe, Tee und Ginger-ale. Das war das Schlimmste. Es war der Tiefpunkt – tiefer noch als damals nach der aufgelösten Verlobung. Nach nur sechs Monaten Ehe war sie getrennt von ihrem Mann, hatte keinen großgewachsenen, gutaussehenden, lächelnden Begleiter, den sie im Theater, auf Partys und Teegesellschaften vorzeigen konnte, wo Abigail Slaney mit drei entzückenden Kindern auftauchte, und Bessie Dietz mit ihren vier, all diese Schulkameradinnen, die in ihrer spontanen Fruchtbarkeit schon matronenhaft und plump waren, während sie als verdorrte Wurzel, als Versagerin dastand. Trotz allem eine Versagerin.
Und dann trafen die Telegramme ein. Ein Blizzard, ein Frühlingssturm von Telegrammen. So viele, daß sie bald Gesicht, Namen und Gang eines jeden Botenjungen der Western Union in Back Bay kannte, und wenn sie spätabends einschlief, dann ertönten in ihren Träumen Fahrradklingeln. Sie fehlte Stanley. Er haßte seine Arbeit. Er haßte das ganze stabile Konzept von Mähmaschinen, Traktoren und Erntegeräten. Er haßte seine Mutter. Fühlte sich nicht wohl. Cyrus war Präsident, Harold der Vizepräsident, aber Katherine war seine Frau, seine einzige Frau, und er liebte sie, wollte sich ihr zu Füßen werfen und sie verehren, wollte seine Arbeit kündigen und zu ihr nach Boston ziehen, in Marion ein Haus für sie bauen, es mit schönen Dingen anfüllen und dort glücklich mit ihr leben. Bis ans Lebensende.
Diesmal kam er mit dem Zug, weniger als zwei Monate nachdem sie sich getrennt hatten, und diesmal holte sie ihn am Bahnhof ab, aufgeregt und erwartungsvoll. Und als sie ihn inmitten der Menge entdeckte, sein Gesicht sah, seine schlummernde männliche Schönheit und Kraft, Stanley Robert McCormick, das Genie, den Künstler, den Millionär, da verliebte sie sich wieder von neuem in ihn. Er nahm sie in die Arme, direkt auf dem Bahnsteig, und sie umhalsten einander vor aller Augen, auch wenn ihnen Schuhputzerjungen, Gepäckträger, Erdnußverkäufer und alberne kleine Frauen mit albernen kleinen Hüten dabei zusahen, es war ihr schnurzegal. Sie umarmte ihn, umarmte ihn einfach, stundenlang, wie ihr schien.
Josephine konnte ihre Freude kaum verhehlen. Und sie hätte auch nicht stolzer und geschäftiger und aufgeregter sein können, wäre Stanley Teddy Roosevelt persönlich gewesen, der im Triumphzug aus Havanna
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