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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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psychiatrischen Fachartikel im Journal of Abnormal Psychology zu lesen. Der Titel lautete recht vielversprechend: »Eine Studie über Anästhesie, Konvulsionen, Erbrechen, Sehstörungen, Erythemie und Juckreiz bei Frau V. G. «, der Text selbst aber war trocken wie die Füllung einer alten Matratze, und beim Durchlesen nickte O’Kane zweimal ein. Noch jahrelang bewahrte er die Zeitschrift neben dem Bett auf, um für alle Fälle ein Schlafmittel bereit zu haben.
    Der Mann selbst war leichter zu verstehen, Gott sei Dank. O’Kane mochte ihn von Anfang an, von der ersten Minute, als er mit seinem ungezwungenen Lächeln das Zimmer betrat und O’Kane einen guten, trockenen, festen, ehrlichen Händedruck gab. Brush war auch da und gab sich jovial und schmerbäuchig und lautstark wie immer, aber Kempf war den ganzen Vormittag mit seinem Vorgänger in Klausur gegangen und hatte klargestellt, daß er sich als erstes mit O’Kane unterhalten wollte. Sie saßen im Büro des Theatergebäudes, es war drei Uhr nachmittags, der erste Tag von Dr. Kempfs Regime – Brush packte dort gerade seine Bücher und Privatsachen in Umzugskartons, und Mr. McCormick hielt im Haupthaus unter Marts halbwegs wachsamem Blick seinen Mittagsschlaf. Kempf stellte etliche Fragen über Mr. McCormicks gegenwärtigen Zustand, aber Brush mischte sich andauernd ein, und so ergriff er O’Kane irgendwann einfach beim Arm und führte ihn in den Theatersaal, einen gewölbeartigen hohen Raum mit mehreren Stuhlreihen, schallschluckenden Paneelen an den Wänden und einer tiefen nachmittäglichen Stille in der Luft. Sie setzten sich in zwei Klappstühle unter eines der großen, gitterbewehrten Fenster, und Dr. Kempf beugte sich vertraulich hinüber: »Also, dann erzählen Sie mal, Eddie«, sagte er, und er sprach mit sanfter, hypnotischer Stimme, wie Dr. Hamilton, »ist es denn wirklich wahr, daß Mr. McCormick – wie lange schon? – seit 1907 oder 1908 keinerlei Umgang mehr mit einer Frau gehabt hat?«
    »Umgang? Er hat keine einzige Frau mehr gesehen , nicht mal während unserer Ausfahrten, denn da waren wir immer sehr vorsichtig, nur einsame Straßen und so weiter.«
    »Und weshalb das Ganze?«
    »Zu gefährlich. Damals, am Anfang, als wir hierhergezogen sind, da...«
    »Ja?« Kempf hörte ihm aufmerksam und konzentriert zu, die kreisförmigen Augen, das strahlende Lächeln auf Eddie fixiert wie eine Kompaßnadel.
    »Na ja, er hat sie attackiert – die Frauen. Zusammengeschlagen. Mißhandelt.« O’Kane erinnerte sich an die junge Frau im Zug, die mit ihrer Mutter auf der Heimfahrt nach Cincinatti war, und wie Mr. McCormick sich auf sie gestürzt und seine Hand in ihre Schamgegend geschoben hatte – und wie er seine Zunge ins Spiel gebracht und ihr den Hals abgeschleckt hatte wie eine Kuh an einer Salzlecke. Oder ein Bulle. Ein brünstiger Bulle.
    »Hat ihn eigentlich einmal jemand darüber befragt, wo diese Feindseligkeit gegenüber Frauen herrührt? Dr. Hamilton? Dr. Meyer? Oder Sie selbst?«
    O’Kane rutschte auf dem Stuhl herum. Der Sitz war schmal und hart. »Es hatte viel mit Sex zu tun«, sagte er, »sehr unangenehm für alle Beteiligten. Mir persönlich war es peinlich, um ehrlich zu sein. Und außerdem ist er etwa um die Zeit damals katatonisch geworden, da konnte ihn niemand mehr irgendwas fragen – oder vielmehr: fragen konnte man, was man wollte, nur gab er keine Antworten darauf.«
    »Aber das ist doch Ewigkeiten her«, sagte Kempf.
    »Achtzehn, neunzehn Jahre. So ungefähr.«
    Kempf lehnte sich auf dem Stuhl zurück, das Holz knarrte unter seinem Gewicht. Er verschränkte die Hände im Nacken wie bei einem Sonnenbad und schloß die Augen eine Zeitlang, tief in Gedanken versunken. »Allzu große Fortschritte hat er nicht gemacht, oder?« fragte er schließlich, schlug die Augen auf und setzte sich wieder gerade hin.
    O’Kane konnte das schlecht abstreiten. Er zuckte die Achseln. »Es gab immer wieder gute Phasen.«
    »Ich habe mir das hier durchgelesen, Eddie«, sagte der Arzt und reichte ihm einen Aktenordner mit maschinengeschriebenen, abgehefteten Aufzeichnungen. Es waren die jährlichen Berichte über Mr. McCormicks Zustand, vom Beginn seiner Krankheit bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt, und während O’Kane die Einträge überflog, bekam er das flaue Gefühl, eine Schattenbiographie der eigenen Person zu lesen – er selbst war es, der sich da durch die Seiten quälte, er war es, der all diese komprimierten Jahre der Hoffnungslosigkeit

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