Riven Rock
Sie denken, und ich will Sie gar nicht dafür kritisieren, aber die Psychoanalyse hat sich seit damals enorm weiterentwickelt – das ist kein Zauberkunststück, und auch nicht irgendeine psychologische Kompresse, die man heute auflegt und morgen wieder vergißt. Es ist ein kontinuierlicher, dynamischer Prozeß – der übrigens Jahre dauern kann. Und es mag sogar zunächst scheinen, als wäre der Patient – in diesem Fall Mr. McCormick – zu Beginn der Therapie noch gestörter als zuvor, ehe die Besserung eintritt – wegen der unterdrückten Erfahrungen, die wir erst einmal an die Oberfläche befördern müssen: tiefliegende Ängste und Phobien, sexuelle Probleme, das gesamte Konstrukt seiner Persönlichkeit. Wir werden alle seine alten, schwärenden Wunden neu aufbrechen, und dann werden wir sie gut vernähen und sauber verbinden. Verstehen Sie mich?«
»Sicher«, sagte O’Kane – was konnte er auch sonst sagen –, aber er hegte seine Zweifel. Die allergrößten Zweifel.
»Seine Frau kommt als erstes dran«, sprach Kempf weiter, »das ist nur recht und billig. Natürlich ist das noch ferne Zukunftsmusik, aber unser Ziel ist es, daß er wieder vollständig normale Beziehungen zu...«
»Aber nicht etwa zu Frauen, oder doch?«
Kempf sah ihn scharf an. »Ja, natürlich. Was könnte wohl abnormaler sein, und zwar für jeden Mann, als daß ihm die halbe Bevölkerung dieser Erde vorenthalten wird? Du liebe Güte, er durfte ja nicht einmal mehr seine Mutter sehen, kurz bevor sie gestorben ist – kann man denn erwarten, daß jemand in einer solchen Lage gesund wird?«
»Nein, das kann man nicht«, hörte sich O’Kane sagen, denn er hatte es schon immer gewußt, und Nick und Pat und Mart auch: gebt ihm Frauen. Frauen. Frauen würden ihn heilen, ganz bestimmt würden sie das.
4
Ich habe dein
Gesicht gesehen
Während Dr. Kempf in Riven Rock behutsam Stanleys Therapiekonzept revolutionierte, war Katherine mit Jane Roessing in Europa und schlug dort die Trommel für Margaret Sanger und ihre Bewegung zur Geburtenkontrolle. Als 1926 in das Jahr 1927 überging und sie Riven Rock ihren alljährlichen unergiebigen Besuch abstattete, wo sich Stanleys Stimme am Telephon schwächer und unsicherer und noch ferner als beim letztenmal anhörte – es war die Stimme eines Fremden, eines Phantoms, von jemandem, dem sie vor so langer Zeit in einem Tagtraum begegnet sein mußte, daß sie sich nicht einmal mehr vage und verschwommen an die Züge seines Gesichts erinnerte –, da trug sich Katherine mit Plänen für die Genfer Bevölkerungskonferenz, die im August in Prangins stattfinden sollte. Und wozu Geburtenkontrolle? Weil ohne sie die Frau eine Leibeigene war, ein Stück Zuchtvieh, eine preisgekrönte Stute oder Sau, und warum sollte man Stuten in die Schule schicken? Warum sie anstellen? Warum ihnen Biologie und Mathematik und das Wissen dieser Welt beibringen? Schwanger und aufgedunsen in jedem Lebensjahr zwischen sechzehn und vierzig oder noch länger, waren die Frauen Gefangene der Geschlechtstriebe ihrer Männer, und was war daran gut? Außerdem, wie Jane gerne hervorhob, schien es ein Naturgesetz, daß gerade die niedrigsten und am wenigsten gebildeten Bevölkerungsgruppen die meisten Kinder hatten – die Iren und Italiener, die Schweden und Böhmen warfen zehn Babys für jedes, das eine Frau ihrer Schicht zur Welt brachte. Und was sollte aus der Rasse in einer Generation werden, wenn es in dieser Richtung weiterging?
Na schön. Und so stand sie in der Schlange beim Zoll in Boston, das Herz klopfte ihr bis in die Ohren, und schmuggelte zwei große Koffer und eine Reisetasche voller Pessare ins Land, die in den Sanger-Kliniken gratis an Frauen verteilt werden sollten, sie versandte Petitionen an Kongreßabgeordnete, machte ihren Einfluß in Washington geltend und gab Stanleys Geld – und auch das eigene – für die Kliniken, die Propagandaschriften, den Kampf aus. Sonst hatte sie ja nichts. Keinen Mann und kein eigenes Kind: die Dexters würden mit ihr aussterben – sie war die letzte der Linie, darüber gab sie sich keinen Illusionen hin.
All das hatte sie schon damals vor vielen Jahren geahnt, nach dem hundertprozentigen Desaster ihrer Hochzeitsreise (es war, als wäre sie immer wieder von einer Brücke gesprungen, Tag für Tag, Nacht für Nacht von neuem), aber sie hatte es nicht eingestehen wollen, nicht einmal vor sich selbst. Eine Scheidung wäre leicht gewesen. Sie hätte die Bedingungen der McCormicks
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