Robert Enke
Vorstellung, wie sich der Vater an all den Ordnern vorbei ins Heiligtum des
Stadions gekämpft hatte, »ich bin Robert Enkes Vater, bitte lassen sich mich durch, ich muss zu meinem Sohn«, war ihm unangenehm.
Auch Regungen wie Scham funktionierten also noch, es war erstaunlich, was noch alles funktionierte, wo er doch das Gefühl
hatte, sich selbst in eine einzige Leere verwandelt zu haben.
Der Schiedsrichter pfiff das Spiel an. Sechs Tage nach Laras Tod spielte Robert Enke in der Fußballbundesliga. Die Zuschauer
sahen beim 1:1 gegen Leverkusen einen starken Torwart. Nur er registrierte durch eine Wand, wie er einige kleine Fehler machte.
Niemandem unter den Eingeweihten kam der Gedanke, Laras Tod könne ihn wieder in eine Depression stürzen. In der Trauer war
keine Zeit für den Gedanken, außerdem machte er solch einen gefassten Eindruck. Zur Beerdigung baten Teresa und er die Gäste,
in Weiß zu erscheinen.
Marco Villa konnte nicht kommen. Er war Profi, er musste Fußball spielen, mittlerweile in einem Vorortverein von Neapel, Fünfte
Liga, wo ein Lokalfürst erstaunliche Gehälter versprach. Am Tag der Beerdigung spielte Marco gefühllos, er dachte an Lara
und schoss ein Tor, ohne zu merken, was er tat. Dreitausend im Stadion applaudierten ihm, die Mitspieler kamen jubelnd auf
ihn zu, sie verstanden nicht, warum er nicht die Arme in die Höhe riss, warum er nicht strahlte. Noch vor der Pause schoss
Marco ein zweites Tor. Er täuschte eine Zerrung vor und ließ sich auswechseln. Er saß allein in der dunklen Umkleidekabine,
während draußen die zweite Halbzeit lief. Er war Stürmer. Er hatte zum ersten Mal seit sieben Jahren wieder ein Tor geschossen.
|298| SECHZEHN
Danach
Auf Teresas Kamera waren einige Bilder gespeichert, die sie noch nicht ausgedruckt hatte. Die Fotos waren wenige Wochen alt.
Sie zeigten Robert mit Lara am Maschsee. Der letzte Ausflug. Was sollten sie mit diesen Fotos machen, wie konnten sie noch
irgendetwas mit diesen Fotos machen, ausdrucken, löschen?
»Wir hängen sie auf«, sagte Teresa.
Er nickte, um nicht sprechen zu müssen.
Sie wollten dem Tod ihrer Tochter nicht ausweichen, sie wollten sich an die schönen Momente erinnern. Und natürlich gelang
es nicht jeden Tag.
Teresa aß nicht mehr. Sie sah machtlos zu, wie sie immer dünner wurde, ohne Appetit, ohne den Antrieb, etwas zu sich zu nehmen.
Er wurde von der Frage verfolgt, hätte Laras Tod verhindert werden können? Was, wenn die Ärzte sie an jenem Tag nur an einem
Ohr operiert hätten? Hätte ihr kleines Herz diese Belastung ausgehalten? »Wir alle haben ihre Kraft überschätzt«, sagte er,
ohne zu merken, wie laut er plötzlich redete.
Am Küchentisch stand nach wie vor ihr Kinderstuhl. Sie konnten ihn doch nicht einfach wegräumen. Aber wie konnten sie beim
Anblick des Stuhls nicht an die Leere denken?
Doch die unzähligen innerlichen Zusammenbrüche, die meist nicht länger als Minuten dauerten, mündeten in einer unwirklich
schönen Erkenntnis: Der Schmerz vereinte sie. »Es gibt Momente im Leben, wenn du mit voller Kraft spürst: Mit diesem Menschen
möchte ich alt werden. So war das bei Robbi und Terri nach Laras Tod«, sagt Marco Villa.
Sie gingen gemeinsam in Laras Kinderzimmer, ihr Name stand noch mit bunten Magnetbuchstaben an der Tür, ihre Spielsachen |299| lagen noch auf dem Teppich. Sie setzten sich auf den Boden. Weißt du noch, sagten sie sich. Als Lara unbedingt wollte, dass
die Krankenschwester so eine Baseballmütze wie Teresa aufzog. Als Lara am letzten Tag zum ersten Mal ein ganzes Gläschen aß.
Sie wollten dem Tod ihrer Tochter nicht ausweichen, sie wollten sich an die schönen Momente erinnern. Und an manchen Tagen
gelang es tatsächlich.
Laras Tod lag noch keine zwei Wochen zurück, als ihn eine Nachricht erreichte. Er war nach sieben Jahren erstmals wieder für
ein Spiel der Nationalelf nominiert worden. Konnte es Trauer und Freude für ihn immer nur im Extremen geben? Er redete sich
zu, er dürfe auf die Nominierung stolz sein, er brauche sich nicht zu schämen, wenn er noch so etwas wie Freude spürte. Er
kam sich vor wie ein Roboter, der sich selbst Befehle erteilte: Freu dich.
Die Nationalelf traf sich Anfang Oktober 2006 in Berlin zum Trainingslager. Am Ende der Woche würde sie ein Testspiel gegen
Georgien bestreiten, er war als Ersatztorwart vorgesehen. Vorsichtig fragte ihn der Mediendirektor des Deutschen
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