Robert Enke
Lara war nachmittags stabil gewesen. Die Krankenschwester schickte Robert
auf den Balkon. Er versuchte, Teresa anzurufen. Sie hatte das Telefon in der Küche liegen gelassen und hörte das Läuten im
Schlaf nicht. Er wählte die Nummer der Haushälterin, sie müsse bitte schnell zu Teresa fahren und sie wecken. Es war Viertel
nach fünf am Morgen. Der 17. September 2006. »Lara |295| ist weg«, sagte Robert Enke immer wieder am Telefon, »Lara ist weg.« Dann wurde es schwarz.
Als Teresa um sechs am Morgen den Hintereingang zur Klinik nahm, weil sie von dort schneller auf Laras Zimmer gelangte, fand
sie Robert vor der Tür. Er lag auf dem Bürgersteig.
»Wir haben uns gleich auf der Rückfahrt von der Klinik gesagt: Das Leben geht weiter. Das war unser Spruch«, sagt Teresa.
Das war ihr Versuch. Im Autoradio lief schon die Nachricht: Robert Enkes Tochter gestorben. Die Todesursache offenbar plötzliches
Herzversagen. Sie riefen die Familie und Freunde an. Alle sagen, wie gefasst Robert und Teresa klangen. Sie sagten allen,
sie sollten bitte nicht nach Empede kommen.
Sie wollten zu zweit alleine sein.
Sie bahrten Lara zu Hause auf. Die Kinder des Dorfs kamen sie ein letztes Mal besuchen. In die Stille hinein fragte ein Grundschulmädchen:
»Was passiert denn nun mit all den schönen Spielsachen?« Die grausame Unschuld der Kindheit stieß Teresa vor den Kopf, und
gleichzeitig musste sie innerlich lächeln. Für Kinder ging es so einfach, immer spielerisch weiter. Er stand wie betäubt daneben,
als sei er gar nicht mehr da. Beim Trauergottesdienst am Tag nach Laras Tod merkte Teresa, dass etwas in ihm arbeitete.
»Und, Training morgen, eher nicht, oder?«, fragte er, die Stimme noch zu brüchig, um ganze Sätze zu bilden.
»Natürlich, Robbi!«
»Meinst du?«
»Natürlich, wenn es dir hilft. Fußball ist Teil unseres Lebens. Schau, dass du wieder in den Alltag kommst.«
»Und Wochenende?«
»Spiel.«
»Ja?«
»Robbi, ob du diesen Samstag wieder spielst oder nächsten, es ändert nichts, außer dass es immer schwerer wird zurückzukehren,
je länger du wartest.«
Am Dienstag, zwei Tage danach, erschien Robert Enke zum |296| Training. Er zog ein Schweigen hinter sich her, wohin er auch ging, verstummten die Gespräche, es bildete sich ein Korridor
der Lautlosigkeit um ihn. In der Umkleidekabine setzte er sich nicht hin. Er habe ihnen etwas zu sagen, sagte er im Stehen.
Die meisten Spieler schauten auf den Boden. »Wie ihr wisst, ist Lara gestorben. Ich bitte euch, habt keine Berührungsängste,
sprecht mich offen an, wenn ihr Fragen habt. Geht natürlich mit ihrem Tod um.« Er wirkte souverän, gefestigt.
»Es war ein bewegender Auftritt«, sagt Tommy Westphal, sein Freund, der Teambetreuer. »Aber danach hat ihn niemand nach Lara
gefragt. Keiner aus der Mannschaft hat irgendetwas zu ihm sagen können, was über das normale Beileid hinausging. Ich hatte
das Gefühl, es war für die Mitspieler schwieriger als für ihn, mit der Situation umzugehen.« Wie sollten sie noch miteinander
reden, wenn Robert unter ihnen war, durften sie überhaupt noch lachen auf dem Trainingsplatz?
Für die Eltern und Freunde war es nicht leichter. Wie sollten sie ihr Mitgefühl, ihre Unterstützung ausdrücken, wenn Teresa
und Robert niemanden sehen wollten?
Roberts Mutter flüchtete in die Berge um Jena. Es war ein wunderschöner Tag, der Tag nach Laras Tod, offiziell noch immer
Sommer, der drittletzte Tag des Märchensommers 2006. Gisela Enke ermahnte sich, besonders viel Wasser zu trinken, bevor sie
losging, sie marschierte mehr, als dass sie spazierte, als könnte sie einer Nachricht davonlaufen. Irgendwann kippte sie auf
dem Bergpfad um. Sie versuchte gar nicht aufzustehen, sie fühlte, sie würde es sowieso nicht schaffen. Bleib ruhig liegen,
sagte sich die Mutter, es kommt sowieso niemand vorbei.
Zu Hause schrieb sie einen Brief an Robert und Teresa. Sie tat, als sei es Lara, die schrieb. »Weißt du noch, Papa, als ich
dich von oben bis unten mit dem Essen vollspuckte. Damals konntest du nicht lachen.« Als Robert und Teresa den Brief lasen,
mussten sie weinen, und es tat gut.
Der Vater stand am nächsten Samstag plötzlich vor ihm. Robert Enke nahm im Kabinengang Aufstellung, um mit Hannover 96 zum
Spiel gegen Bayer Leverkusen ins Stadion zu laufen. Der Vater warf sich ihm um den Hals. Robert Enke |297| gefror, gerührt und gleichzeitig verschämt. Die
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