Robert Enke
stehen. Doch es war nicht so einfach, nach vorne zu schauen. Warum musste immer ihm so etwas
passieren? »Es war ein ganz normaler Schuss, ein Schuss, wie ich ihn schon tausendmal gehalten habe.«
Zu Hause rief er seinen Nachbarn Uli an. Wollte er die zwei Eintrittskarten für das Spiel gegen Russland am nächsten Tag in
Dortmund haben? Normalerweise hätten Teresa und Jörg sie genutzt.
Uli erzählte ihm, dass sich sein Schwager Jürgen auch einmal das Kahnbein gebrochen hatte, an beiden Händen. Er war |337| bei seiner Arbeit als Dachdecker vom Dach gefallen. Ruhig ist ein Adjektiv, das Jürgen nur unzureichend beschreibt. Er redete,
wenn es unbedingt nötig war, und ließ ansonsten sein angedeutetes Lächeln alles andere sagen.
»Kannst du denn deine Hände heute wieder voll strecken?«, fragte ihn Robert später.
»Ich kann sie praktisch gar nicht mehr strecken«, sagte Jürgen und machte es ihm vor.
Robert Enke starrte ihn an.
Er sah sich die Partie, die sein Spiel hätte sein sollen, im Fernsehen an. Teresa setzte sich zu ihm. Die deutsche Elf spielte
energisch, gedankenschnell, nach einer halben Stunde führte sie durch Tore von Lukas Podolski und Michael Ballack 2:0. Kurz
vor der Pause verlor Philipp Lahm auf dem linken Flügel, nur zehn Meter vor dem eigenen Tor, den Ball gegen Aleksandr Anyukov.
Der Russe zog sofort nach innen, in den deutschen Strafraum hinein. René Adler kam ihm weit entgegen, er folgte der Lehre
der
Radikalen
, bis aus dem Fünfmeterraum hinaus eilte Adler, um Anyukovs Schusswinkel so klein wie möglich zu halten. Adler fühlte, dass
der Russe, so nah an der Außenlinie, in den Rückraum passen würde. Als Anyukov schließlich flach flankte, machte der Torwart
deshalb einen Ausfallschritt nach rechts. Doch Adler hatte Pech. Anyukov passte geradeaus, durch Adlers Beine hindurch. Im
Hinterland des Fünfmeterraums nahm Andrei Arshavin die Vorlage auf und schoss das 2:1. Es war kein Torwartfehler gewesen,
sondern eine Situation, in der ein Torhüter kaum etwas ausrichten konnte. Bloß Robert Enke dachte, »das hätte man auch anders
lösen können«. Er war sich sicher, mit seiner Technik, das rechte Knie nach innen zu beugen, hätte er den Pass durch die Beine
verhindert.
Es blieben noch 40 Minuten, und das Tor änderte die Dynamik des Spiels. Die Russen stürmten plötzlich. René Adler lenkte sehenswert
einen Kopfball über die Latte, er warf sich Sergei Semak in letzter Sekunde erfolgreich entgegen und fing, umringt von sieben
Spielern, eine Flanke fabelhaft ab, bei der Robert Enke nicht hingegangen wäre. Er saß im Wohnzimmer und hörte |338| den Fernsehkommentator schreien: »Klasse von Adler!«, »ich wiederhole mein Kompliment: Das ist ganz große Klasse von Adler«,
»und wieder Adler!« Es war zwanzig nach zehn am Abend, noch zehn Minuten zu spielen in Dortmund, die Spannung war körperlich
spürbar, konnten die Deutschen ihren 2:1-Sieg retten? Er stand auf und sagte zu Teresa: »Ich gehe ins Bett.«
Er wollte die Zeitungen in den folgenden Tagen nicht lesen. Aber die Kollegen sprachen ihn beim Rehabilitationstraining im
Stadion von Hannover an, »das gibt es doch nicht, hast du gesehen, was die Zeitungen schreiben, selbst die angeblich seriösen:
›Die Ära Adler hat begonnen, der Torwartkampf ist entschieden.‹ Haben die sie noch alle?« Jörg schickte ihm eine SMS. »Das
nächste Highlight: Der
Kicker
gibt René die Note 1,5 …«
Die Kollegen und Jörg Neblung meinten es gut mit ihm. Sie wollten ihm sagen, das waren absurde Jubelarien, er solle sich von
diesem Mediengeschrei nicht irritieren lassen. Indem sie ihn auf die Schlagzeilen hinwiesen, brachten sie ihn erst richtig
aus der Fassung.
Zwei Tage nach dem Spiel gegen Russland rief er bei mir an. Er ließ mir nicht lange Zeit, mich nach seinem Kahnbein zu erkundigen.
Er wollte zum Punkt kommen: »Du bist doch auch Journalist!«
»Ja. Wieso?«
»Und was hältst du denn davon, was deine Kollegen aus Renés Spiel gemacht haben?«
»Du darfst nicht vergessen, dass es Renés erstes Länderspiel war. Dafür hat er seine Sache wirklich sehr gut gemacht. Und
Sportreporter neigen leider dazu, bei jungen Fußballern nach einem tollen Spiel immer gleich die größte Karriere vorhersagen
zu müssen, das sind die Reflexe des Berufs. Damals als 19-Jähriger in Gladbach bist du genauso gehypt worden. Versuch, das
alles zu ignorieren.«
»Natürlich – mir macht das
Weitere Kostenlose Bücher