Robert Enke
absolvierten sie ihre Übungen, aber das Gefühl, für dasselbe Ziel zu kämpfen, machte sie zu einer Gemeinschaft. Und er durfte
sich wie der Kapitän dieses FC Verletzt fühlen. Er war der Nationalspieler unter Bundesligaprofis, Zweitligasternchen und
Drittliga-Ersatzspielern, er spürte eine Ehrfurcht im Ton ihrer Fragen, in der Art, wie sie seine Nähe suchten. Unter der
Anerkennung – endlich wieder irgendeine Form von Anerkennung – entspannte er sich. Die Schwarzseherei und unerklärliche Traurigkeit,
die ersten Anzeichen einer Depression, zogen ihn nur noch in kurzen Momenten runter.
»Du fühlst dich wie Rocky in solch einer Rehaklinik«, sagt Marco Villa: »Wochenlang in der Knochenmühle, um dich auf einen
einzigen Tag vorzubereiten: dein Comeback.«
Robert Enke blieb Rocky, als er Mitte Dezember nach Hannover zurückkehrte. Er konnte seinen Ehrgeiz kaum zügeln. Im Wintertrainingslager
nach Silvester würde er wieder im Tor stehen, zum Auftakt der Bundesligarückrunde am 31. Januar 2009 würde er wieder spielen,
nahm er sich mit einer Bestimmtheit vor, als könne er die Rückkehr erzwingen.
Die Angst dominierte ihn nicht mehr. Aber sie verschwand auch nicht.
Er saß am Küchentisch und streckte ständig die linke Hand nach hinten, um zu sehen, wie weit er sie schon wieder bewegen konnte.
Er streckte die Hand zwanzigmal während eines Abendessens nach hinten. Er schien die Bewegung gar nicht mehr wahrzunehmen.
Im
Pius
in Neustadt wollte er mit den Wilkes aus Empede einen netten Abend bei einem Glas Wein verbringen, als ihn die Freunde ertappten.
Was machte er denn immer mit der Hand? Ein paar Minuten später waren alle anderen am Tisch damit beschäftigt zu sehen, wie
weit sie ihre linke Hand nach hinten strecken konnten. Er kam schon weiter als Jürgens Frau Ines mit ihrem gesunden Kahnbein.
|344| Die Physiotherapeuten hatten ihm eine Maschine gebaut. Er legte seine Hand hinein, und die Maschine spannte die Hand nach
hinten. Zehn Minuten sollte er die Hand in der Maschine liegen lassen. Danach probierte er sofort aus, ob sich die Hand schon
wieder ein wenig mehr strecken ließ.
Er wollte unbedingt alles richtig machen. So ging er im Januar 2009 zu Doktor Johannes Stroscher. Ein befreundeter Arzt hatte
ihm den Psychiater und Psychotherapeuten empfohlen. Auch wenn er diesmal allenfalls an einer depressiven Verstimmung litt
und das Schlimmste schon verhindert schien, würde er alle Maßnahmen ausschöpfen. Er wollte es nie wieder so weit wie nach
Istanbul kommen lassen.
Die Praxis von Doktor Stroscher lag in einer Wohnstraße unweit vom Zoo. Robert Enke zog eine Baseballmütze tief ins Gesicht,
damit ihn niemand erkannte, als er in das Haus ging. Er musste die Mütze in den nächsten Wochen unbedingt immer im Auto bereitliegen
haben, ermahnte er sich.
Was ihm in dieser Situation gutgetan hätte, war der alte Zusammenhalt bei Hannover 96. Aber Kabine zwei war nun ein Ruheraum
mit Liegen und Massagestühlen. Robert Enke ging nach der Behandlung beim Physiotherapeuten an der renovierten Kabine vorbei.
Ihre alte Höhle machte ihrem neuen Namen auf traurige Art alle Ehre: Es herrschte nur Ruhe im Ruheraum. Er konnte den Gedanken
nicht unterdrücken, wie sehr sich alles in einem halben Jahr verändert hatte.
Auf Platz acht hatte Hannover 96 die vorherige Bundesligasaison abgeschlossen, so gut wie seit dreiundvierzig Jahren nicht
mehr. Es war der Tag nach seiner Nominierung für die Europameisterschaft gewesen, der 17. Mai 2008, sie hatten Cottbus im
abschließenden Ligaspiel 4:0 besiegt, der Trainer hatte sich das Mikrofon gegriffen und im Übermut gerufen: »Liebe Fans! Ich
verspreche euch, nächste Saison holen wir die fünf Punkte, die dieses Jahr noch zur Qualifikation für die internationalen
Wettbewerbe gefehlt haben!« Siebenundvierzigtausend hatten gejubelt. Robert Enke und sein Mitspieler Hanno Balitsch hatten
sich entgeistert angeschaut.
|345| Der Achte der Bundesliga ist der Beste der Mittelklasse. Vor ihm liegt nur noch die Spitzengruppe. Aber kein Sprung ist schwieriger
als von Platz acht auf Rang fünf oder sechs. Achter, Bester vom Rest, kann eine passable Mannschaft werden, wenn sie all die
einfachen Sachen richtig macht, systematisch defensiv spielt und zielstrebig kontert. Um jedoch Sechster zu werden, um Letzter
der Spitze zu sein, muss eine Mannschaft etwas Besonderes können, ein Spiel aktiv gestalten, den Ball laufen
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