Robert Enke
Zivildienst leisten wollen. Aber sein Realismus und ein klein wenig auch seine Bequemlichkeit waren größer als seine
Überzeugung, niemals Dienst an der Waffe leisten zu wollen. Der Zivildienst hätte dreizehn Monate gedauert. Bei der Bundeswehr
musste er als Profisportler in der Sommerpause die dreimonatige Grundausbildung durchlaufen, die restlichen sieben Monate
der Wehrzeit wurden ihm als Mitglied der Sportfördergruppe de facto erlassen.
Marco Villa wurde mit ihm eingezogen.
Sie landeten in der Kaserne Köln-Longerich zwischen der Autobahn A1 und dem Gewerbegebiet Bilderstöckchen. Funker Enke und
Funker Villa.
»Durchzählen«, brüllte der Ausbilder bei der Begrüßung, trat ganz nah an Robert Enke heran und zischte, Nase an Nase, »na,
Sie Supersportler«.
»Was verdienst du, was verdiene ich, was verdienst du, was verdiene ich«, murmelte Robert Enke, als der Ausbilder wieder außer
Hörweite war. Marco musste lachen.
»Was gibt es da zu lachen?«, brüllte der Ausbilder. Der Ton war gesetzt.
»Funker Enke!«, brüllte es über den Kasernenhof. Der Ausbilder stand am Fenster. »Kleiderordnung, Funker Enke!«
»Ja, Kleiderordnung«, murmelte Robert Enke unten auf dem Hof, auf dem Weg in die Cafeteria.
»Schauen Sie sich mal an!«
Er hatte das Schiffchen und die Koppel vergessen. Er musste einen vierseitigen Aufsatz schreiben. Über den Sinn der Kleiderordnung
bei der Bundeswehr.
Einige Tage später rutschte ihm bei den Liegestützen das Hemd aus der Hose.
»Funker Enke, Kleiderordnung!«
»Ja, was, Kleiderordnung?«, zischte er.
Zur Strafe sollte er einmal um den Block sprinten.
Er trabte, statt zu sprinten.
»Sprinten, habe ich gesagt, Funker Enke!«
Der Ausbilder ließ ihn noch eine Runde laufen, und Robert Enke trabte weiter. Diesmal würde er sein wie Uwe Kamps. Er |52| würde niemals aufgeben. Ihm war heiß vor Zorn. Wenn er etwas nicht ertrug, dann das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden.
Nach elf Runden gab der Ausbilder auf. »Abtreten, Funker Enke.«
Marco Villa erschien es längst zwangsläufig, dass immer Robert die Missgeschicke zustießen. Wenn sie mit der Borussia in einem
Hotel waren, schlug Marco auf dem Weg zum Frühstück absichtlich die falsche Richtung ein. Robert tappte brav hinter ihm her,
bis sie vor der Abstellkammer statt im Aufzug standen. »Er hatte den schlechtesten Orientierungssinn der Welt«, sagt Marco,
»und er brachte mich jedes Mal wieder zum Lachen, wenn er dann panisch rief: ›Wo sind wir denn jetzt wieder gelandet?‹«
Natürlich, sagt Marco, er wisse, dass jeder irgendwelche Bundeswehr- oder Fußballgeschichten zu erzählen habe, deren Charme
für Außenstehende schwer begreiflich sei. Aber für ihn und Robert waren jene drei Monate in Köln-Longerich ein Schatz. Dort
fand Robert Enke einen Freund, der ihm für immer bleiben würde.
Heute lebt Marco als Profifußballer mit seiner Frau und den zwei Kindern in Italien, der Heimat seines Vaters. Der italienische
Einfluss ist nicht zu verkennen, aus dem braven Mönchengladbacher Schülerhaarschnitt ist eine modische Langhaarfrisur geworden.
Er sitzt in Roseto an der Adria beim Frühstückskaffee in der
Pasticceria Ferretti
und redet über die Liedtexte von Vasco Rossi, »dich interessiert mehr die Schule«, singt Rossi, »aber dann, wer weiß, wie
gut du im Rest vom Leben bist«. Da sei was dran, sagt Marco. Da erkenne er sich auch wieder, wenn man Schule durch Fußball
ersetze. Wenn Marco erzählt, lauscht ihm jeder gerne. Robert Enke hatte bei ihm vor allem das Gefühl, verstanden zu werden.
Als im August 1997 in Mönchengladbach die nächste Saison nach der Bundeswehrzeit begann, war Marco Villa beim Torschusstraining
besonders darauf erpicht, Uwe Kamps zu überlupfen. Er genoss es, wie Kamps dann jedes Mal tobte. »Um nicht falsch verstanden
zu werden, der Uwe war im Prinzip sehr |53| nett«, sagt Marco. Doch ohne dass sie jemals konkret darüber geredet hatten, ahnte Marco, wie Robert sich innerlich über den
tobenden Kamps amüsierte, und die Vorstellung spornte Marco an, machte ihn glücklich.
Robert Enke machte in seiner zweiten Bundesligasaison den kleinsten Sprung, der in einer Bundesligaelf möglich ist, vom dritten
zum zweiten Torwart. Auch der zweite Torwart spielte nie. Doch für ihn bedeutete der persönliche Aufstieg die Welt. Er gehörte
endlich dazu. Der zweite Torwart reiste als Ersatzmann zu allen Spielen mit.
Bisher hatte er
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