Robert Enke
Minuten
vor Spielende fiel das 3:0. Das war es.
»Ich dachte eigentlich, dass ich nervöser sein würde«, sagte Robert Enke den Sportreportern im Kabinengang. Mit leisem Enthusiasmus
erzählte er von den Flanken, die viel schärfer hereingeflogen seien, als er es jemals im Training oder in der Reserverunde
erlebt habe. Wie so oft, wenn er gut gelaunt war, antwortete er auf Lob mit Selbstironie: »Der Ball kam so schnell, dass mir
manchmal überhaupt nicht klar war, wann ich zu einer Flanke raussollte; aber irgendwie lag der Ball dann immer in meinen Händen.«
Nach dem Spiel redeten wenige über den Torwart. Der neue Stürmer Toni Polster konzentrierte die Schlagzeilen auf sich. Die
Rheinische Post
veröffentlichte eine Doppelseite unter der Dachzeile »Borussia ist erstmals seit zehn Jahren wieder Tabellenführer«, was nach
dem ersten Spieltag nicht die größte Kunst war.
Zu Hause legte Robert Enke die Handschuhe, die er mit Shampoo unter der Dusche gereinigt hatte, zum Trocknen aus und strich
den weichen Schaumstoff ihrer Fangflächen glatt.
|61| DREI
Niederlagen sind sein Sieg
In einer vor Regen triefenden amerikanischen Kleinstadt hatte der Mörder schon fünf Menschen auf dem Gewissen, als er eines
Nachts einen Hundekadaver auf der Straße liegen sah. »Das war ich aber nicht«, sagte der Serienmörder trocken. An dieser Stelle
des Kinofilms
Sieben
von David Fincher musste Robert Enke immer lachen. Eigentlich verabscheute er Gewalt, er war restlos davon überzeugt, was
er bei einer Bedrohung machen würde. Weglaufen. Trotzdem schaute er sich den an Gewaltszenen nicht gerade armen Spielfilm
fünf- oder sechsmal an.
Sieben
, mit Morgan Freeman und Brad Pitt in den Hauptrollen, gab ihm etwas, das immer schwieriger zu finden war, seit er für Borussia
Mönchengladbach im Tor der Bundesliga spielte. Der Film war so spannend, dass Robert Enke alles andere und vor allem den Fußball
für 127 Minuten vergaß. Abzuschalten war die schwierigste Aufgabe geworden.
Sein innerer Film lief unaufhörlich. Alles war neu, aufregend, begeisternd, und gleichzeitig hatte ihn der Profisport mit
seinem ewigen Rhythmus sofort nach dem Debüt vereinnahmt. Jede Woche ein Spiel, pausenlos. Für ihn gab es keinen Schlusspfiff.
Die Spielszenen spulten sich in seinem Kopf immer wieder ab, der Freistoß von Kaiserslauterns Martin Wagner, den er erst sah,
als er nur noch eine Umdrehung vom Torwinkel entfernt war, der markante Fernschuss des Frankfurters Chen Yang aus 25 Metern
präzise unter die Latte; für einen Torwartdebütanten bedeutet es wenig, ob ein Tor unhaltbar war oder nicht. Er grübelte nach
jedem Tor, wie er es hätte halten können.
Im Videoladen kannte man ihn schon nach wenigen Wochen. Zwei Monate waren seit dem Saisonstart gegen Schalke 04 |62| vergangen. Borussia Mönchengladbach hatte von den folgenden acht Spielen kein weiteres mehr gewonnen. Robert Enke war nur
eine Fußnote in der Misere. Und der junge Torwart verhinderte noch Schlimmeres!, stand regelmäßig in den Nebensätzen der Spielberichte.
Nach einer 1:2-Niederlage in Bochum fiel die Borussia auf den letzten Tabellenplatz.
Marco Villa schenkte Mittelstürmer Toni Polster eine seidene Unterhose mit Mickey-Maus-Aufdruck als Trophäe für den am schlechtesten
gekleideten Mann der Mannschaft. Polster zog die Unterhose zufrieden an. Aber so richtig lustig war es nicht mehr.
Vor nicht einmal drei Jahren, als sich Robert Enke für die Borussia entschieden hatte, war der Klub Vierter in der Bundesliga
gewesen, es sah nach Aufbruch aus. Nun waren die zwei besten Akteure der Elf, Stefan Effenberg und Torjäger Martin Dahlin,
verkauft worden, weil die Banken drängten. Ordentliches Bundesliganiveau hätte sich mit den verbliebenen Spielern trotzdem
erreichen lassen. Aber Fußball ist pure Dynamik, in diesem Punkt ist der Sport tatsächlich wie das Leben: Die Dynamik entscheidet
über unseren Weg häufiger als jede sorgfältige Planung; die Dynamik gewinnt mehr Spiele als die Taktik. Sekunden nachdem Robert
Enke einen Elfmeter gehalten hatte, geriet die Borussia gegen 1860 München 0:1 in Rückstand, sie verspielte den Sieg in Duisburg
in letzter Sekunde durch ein Eigentor, und ehe die Spieler es merkten, war die Dynamik der Fehler schon in Gang gesetzt, jedes
Missgeschick produzierte zwei neue und ließ die Mannschaft schnell wie einen einzigen großen Fehler aussehen. Wo noch im Jahr
zuvor Dahlin das
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