Robert Enke
Pressing in vorderster Reihe gestartet hatte, konnte der Gegner nun das Spiel ruhig aufbauen, weil der neue
Stürmer Toni Polster keine ausgeprägte Lust zum Laufen verspürte. Wo im Jahr zuvor Jörgen Pettersson Dahlins Pressing genutzt
hatte, um den unter Druck schlecht platzierten Pass des Gegners abzulaufen, platzte Pettersson nun vor Wut über Polster, diesen
Kaffeehausfußballer, im Zorn vergaß Pettersson dann für eine Sekunde zurückzulaufen, das Mittelfeld war deshalb in Unterzahl,
und … am Ende wirkt es meistens zwangsläufig, wenn einem Klub die Zukunft entgleitet.
|63| Der Trainer machte auf die Mannschaft nur begrenzt den Eindruck, als könne er sie aus dieser Dynamik befreien. Friedel Rausch
hatte einmal mit Eintracht Frankfurt den UEFA-Pokal gewonnen. Das war 18 Jahre her. An einem seiner ersten Arbeitstage in
Mönchengladbach hatte sich Rausch auf dem Trainingsplatz an den Mittelfeldspieler Valantis Anagnostou gewandt. »Herr Ballandi«,
begann Rausch, »können Sie«, der Trainer dehnte das
Siiie
und zeigte auf Anagnostou, »mich«, Rausch deutete auf die eigene Brust, »ver-ste-hen?«
»Ja, Trainer«, sagte Anagnostou, »ich bin in Düsseldorf geboren und aufgewachsen. Und ich heiße Anagnostou, nicht Ballandi.«
»Ach so«, sagte Friedel Rausch.
»Und wer bist du?«, fragte er dann Marco Villa.
»Ich bin der Marco Villa.«
»Ach ja, der Markus.«
Jahrelang war Rausch ein etablierter Bundesligatrainer gewesen, ein passabler Taktiker und feuriger Motivator, die Spieler
grinsten zwar wegen seiner schussligen Art, mochten ihn aber gerade deshalb. Rausch war noch immer genau derselbe. Doch eine
Mannschaft, die zu oft verliert, sieht nur die Mängel ihres Trainers. Unter diesem Blick wirkten Trainingsmethoden lächerlich,
die jahrelang als innovativ gegolten hatten. Gerne ließ Friedel Rausch »über den ganzen Platz« trainieren, wie er das nannte:
Auf dem Trainingsgelände in Rönneter reihten sich einige Spielfelder aneinander, und das Übungsspiel ging dann über zwei Rasenplätze,
über 240 Meter. Robert Enke lächelte darüber noch Jahre später sehr amüsiert und ein wenig irritiert.
Als die Borussia auf den letzten Tabellenrang abgerutscht war, überzeugte der Trainer das Präsidium, zwei Spieler fristlos
zu entlassen, Karlheinz Pflipsen und Marcel Witeczek. Im Profifußball nennt man das: ein Zeichen setzen. Die Dynamik ändern,
irgendwie. Das Präsidium übermittelte die Nachricht den betroffenen Spielern. Als der Trainer merkte, dass die Mehrheit der
Mannschaft über die Maßnahme empört war, wechselte er die Seiten. Also, das Präsidium habe Pflipsen und Witeczek ja nahegelegt,
sich einen neuen Verein zu suchen, sagte Rausch seiner |64| Elf, aber das ließe er nicht mit den beiden machen! Er nominierte Pflipsen als stellvertretenden Mannschaftskapitän für die
nächste Partie gegen Bayer Leverkusen, am 30. Oktober 1998.
Es war der Tag, als Robert Enke landesweit bekannt wurde. Marco Villa verletzte sich in der zehnten Spielminute am Knie, das
Innenband war gerissen, er lag am Spielfeldrand und wurde vom Arzt untersucht, als das 0:1 fiel. Nach seiner Auswechselung
humpelte Marco auf die Geschäftsstelle, um das Spiel dort mit einer Eisbandage um das verletzte Knie im Fernsehen zu verfolgen.
Als er den Apparat einschaltete, war auch Borussias Abwehrorganisator Patrik Andersson verletzt ausgeschieden, und es stand
0:2.
Robert Enke saß am Boden, die Hände hingen schlaff über die an die Brust gezogenen Knie, im regungslosen Gesicht ein Ausdruck
tiefer Verständnislosigkeit. So wurde er bekannt. Denn das Bild wiederholte sich so oft, als wäre es ein Slapstick, Robert
Enke verständnislos am Boden nach einem Tor und nach noch einem. 2:8 verlor Mönchengladbach gegen Bayer Leverkusen.
»Karneval in Gladbach«, sangen die Zuschauer. Das größte Debakel seit dreißig Jahren, riefen die Sportreporter. Und der junge
Torwart verhinderte noch Schlimmeres!
Hoffentlich kommt der nächste Samstag, das nächste Spiel schnell, wünschte sich Robert Enke, damit sie dieses Spektakel hinter
sich lassen konnten.
Eine Woche nach dem 2:8 gegen Leverkusen spielten sie in Wolfsburg. Teresa traf sich mit einigen Frauen von Borussias Fußballern
in einer Mönchengladbacher Bar, um sich die Fernsehübertragung der Partie anzuschauen. Nach 53 Spielminuten sagte die Freundin
von Uwe Kamps zu ihr: »Oh Gott, vier Tore war das Höchste, was Uwe
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