Robert Enke
sagten
die Leute; also würde er cool bleiben. In seinem Gesicht war Sekunden nach Yeboahs Tor keine Erregung mehr.
Mit den Wochen gelang es ihm immer öfter, den inneren Stummfilm abzustellen, der unaufhörlich von den jüngsten Toren und Flanken
erzählen wollte. Abends fuhr er mit Teresa oft nach Rheydt zu Oma Frida. Die vierte Oma seines Lebens. Die alte Bäuerin hatte
ihren Hof in Mietwohnungen umbauen lassen, Jörg Neblung lebte hier mit seiner Freundin Dörthe. Zu viert saßen sie zusammen
und redeten unbeschwert über Gott und die Welt. Nur wenn ein Fußballspiel im Fernsehen gezeigt wurde, stand er auf und wollte
es sehen.
Jörg setzte sich zu ihm auf das Sofa. Wenn Jörg lebhaft die Aufregungen des Spiels kommentierte, antwortete Robert knapp und
analytisch. Danach schwieg er wieder. Er schaute Fußball im Fernsehen in sich gekehrt, konzentriert studierte er die Kollegen,
ein Torwartingenieur auf der Suche nach den Mechanismen des Spiels; einerseits. Andererseits war Fußball im Fernsehen sein
wirksamstes Betäubungsmittel. Das Fußballschauen half ihm, nicht an das Fußballspielen zu denken.
Die anderen wollten gerne ausgehen.
Es drohte, ein Konflikt zu werden.
»Man kann doch auch mal ausgehen«, sagte Teresa.
|68| »Man kann auch mal zu Hause bleiben«, sagte er.
Wie oft hatten sie diesen Wortwechsel schon gehabt?
Wenn sie Dörthe und Jörg besuchten, hatte er drei gegen sich und fügte sich. Wenn
Bon Jovi
in der Diskothek gespielt wurde, tanzte er sogar.
Doch das nächste Mal hatte er wieder genauso wenig Lust auf das Nachtleben wie zuvor. Einmal ließ er sich etwas einfallen.
Er wusste, heute wollten sie wieder ausgehen.
»Komm, wir fahren noch in die
Gebläsehalle
«, sagte Jörg.
»Geht nicht«, sagte Robert und versuchte, nicht triumphierend dreinzublicken.
»Wieso denn nicht?«
»Ich habe dummerweise Turnschuhe an. Da lassen mich die Türsteher nicht rein.«
Jörg Neblung sollte sich um ihn kümmern. »Kannste nicht mal was mit dem Jungen unternehmen, der hat hier keinen sozialen Kreis«,
hatte Norbert Pflippen in Roberts zweitem Mönchengladbacher Jahr zu Jörg gesagt, der damals noch Borussias Athletiktrainer
war. Kümmern konnte auch ein Beruf sein, erfuhr Jörg Neblung, nachdem die Borussia im Sommer 1998 seinen Vertrag nicht verlängert
hatte. Der Flippi stellte ihn als Kümmerer ein. So heißen im Jargon die Mitarbeiter einer Beratungsagentur, die den Profisportlern
im Alltag helfen sollen. »Kühlschrankfüller ist ein anderer Begriff«, sagt Jörg Neblung.
Eigentlich hatte er Industriedesigner werden wollen. Während der Aufnahmeprüfung an der Fachhochschule Hannover hatte er auf
der Suche nach Inspiration aus dem Fenster geblickt. Er sah die giftgrünen Straßenbahnen an den Herrenhäuser Gärten vorbeifahren,
zeichnete die nächsten Entwürfe in dieser Farbe und wurde nicht genommen. Danach wollte er etwas ganz anderes machen. Er studierte
Sportwissenschaften. Einer seiner Professoren wurde Präsident von Borussia Mönchengladbach, Karl-Heinz Drygalsky. Als dieser
ihn 1994 als Athletiktrainer engagierte, kannte in der Bundesliga einzig Bayern München den Posten.
|69| Jörg Neblung glaubte, im Profifußball würde es auch nicht viel anders zugehen als in der Leichtathletik, in der er als Zehnkämpfer
aufgewachsen war. Er nahm an, die Mitarbeiter des medizinischen Teams eines Bundesligisten würden Hand in Hand arbeiten, und
der Cheftrainer müsse an einem individuellen Trainingsplan interessiert sein. Dann sah er, wie sein erster Cheftrainer Bernd
Krauss die Spieler entgegen jeglicher Trainingslehre zu überharten Ausdauerläufen zwang, womit angeblich ihr Wille geschult
wurde. Er erlebte, wie Borussias Physiotherapeut ihn beim Trainerstab schlechtmachte, um die Rückkehr verletzter Spieler zur
Wettkampffitness für sich zu reklamieren. »All diese Betreuer in einem Bundesligateam buhlen ständig um die Gunst des Trainers
und der Spieler«, sagt er. »Und um denen zu gefallen, wird zur Not sogar gegen den eigenen Sachverstand gearbeitet.«
Es klingelt im Gang vor seinem luftigen Büro, als ob jemand hier im dritten Stock eines alten Fabrikgebäudes mit dem Fahrrad
hereinkomme und sich mit der Glocke ankündige. Es ist eine Verkäuferin mit ihrem Korb voller belegter Brote. Sie macht jeden
Tag ihre Runde, weil die Multimediadesigner und Kommunikationsberater in Büros wie diesem in der Kölner Lichtstraße keine
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