Rocking Horse Road (German Edition)
aber dennoch unserem Bestand hinzugefügt).
Lucy Asher als Zweite beim Strandlauf der Zwischenstufe vor drei Jahren. Wir erinnerten uns auch noch gut an die Gefühle, damals neu für uns, die in uns erwachten, als wir sahen, wie die jungen Lebensretterinnen inzwischen ihre roten Trikots ausfüllten. In den langen Wintermonaten, verpuppt in den verschiedenen Schichten ihrer Schuluniform, hatten sie sich in scheinbar ganz andere Geschöpfe verwandelt.
Lucy, aus einem Autofenster gesehen, an der Bushaltestelle inmitten einer Gruppe von Freundinnen an einem Freitagnachmittag. Wir vermuteten, sie war auf dem Weg in die Stadt, um ins Kino zu gehen.
Lucy beim Auf hängen von Bildern ihrer entlaufenen Katze Marmalade an allen Laternenmasten der Rocking Horse Road. Ein Finderlohn von fünf Dollar wurde geboten.
Lucy und ihre Schwester Carolyn beim Sonnenbaden auf der breiten obersten Treppenstufe am Schulschwimmbecken. Lucy lag auf dem Rücken, ihr Haar zum Trocknen in alle Richtungen ausgebreitet auf dem fast zu heißen Beton.
Lucy Asher, Hockey spielend an einem Samstagmorgen im Seenebel, der manchmal im Frühling oder Herbst ganz New Brighton einhüllt. Lucy taucht geisterhaft mit dem Ball auf dem rechten Flügel auf. Bald klar zu sehen, bald wieder in den wehenden Nebelschwaden verschwunden. Schließlich mußte das Spiel abgebrochen werden, weil der Nebel sich nicht verziehen wollte und es zu gefährlich war weiterzuspielen.
Von diesem Tag an wurde die Garage der Turners unser Versammlungsort. Fast jeden Tag schauten ein paar von uns am späten Vormittag rein, spielten Pool und redeten von Lucy. Beim Klicken der Billardkugeln und dem Klirren der Eisenstangen mit den Gewichten, mit dem Geruch von Schafdung in der Nase, tauschten wir Erinnertes und Halberinnertes aus.
Al Penny machte es sich zur Gewohnheit, Zeitungsartikel auszuschneiden und mit Reißzwecken an die nackten Wände zu pinnen. Dort hing schon Lucys Foto aus The Press. Wir lasen sie wieder und wieder, bis Schlagworte daraus in unseren Wortschatz eingingen. Es war nicht ungewöhnlich, daß Pete oder Jim oder Roy Moynahan von der »zutiefst erschütterten Gemeinde« oder der »wachsenden Frustration« der Polizei sprachen. Paradoxerweise herrschte draußen Hochsommer. Strahlend blauer Himmel. Temperaturen über dreißig Grad.
Wie wir alle hatte Lucy ihr ganzes Leben auf The Spit verbracht, und es gab einen großen Vorrat an zufälligen Begegnungen, oder man hatte sie zumindest gesehen. Daran konnten wir teilhaben. Jeder einzelne hatte keine so genauen Erinnerungen. Da sie zwei Jahre älter als wir war, hatte sie sich außerhalb unserer Sphäre bewegt. Aber kollektiv hatten wir genügend Zugriff auf ihr Leben, um wahrheitsgemäß sagen zu können: Ja, wir haben Lucy Asher gekannt.
Lucy wurde am Nachmittag des zweiten Weihnachtstags beerdigt, der Trauergottesdienst fand in der presbyterianischen Kirche von New Brighton statt, nur zwei Straßen von unserer Schule entfernt. Die Kirche ist ein Betonbau in der Form eines liegenden Kreuzes. Im Turm hängt eine Glocke, die wir jeden Sonntagmorgen von zu Hause aus hören konnten. Ein ziemlich großes Gebäude aus den 1950er Jahren, als der Gottesdienst quasi noch eine Pflichtveranstaltung war. Trotzdem fand nicht einmal die Hälfte der Leute, die Lucy Asher die letzte Ehre erweisen wollten, darin Platz. Ganz New Brighton schien anwesend zu sein.
Der Bestattungsunternehmer hatte das wohl geahnt, denn er hatte zwei Lautsprecher über dem Kirchenportal angebracht. Etwa zweihundert Leute mußten schließlich draußen bleiben und dem Gottesdienst per Übertragung folgen. Nur Angehörige und engere Freunde von Lucy oder ihren Eltern durften hinein. Wir waren bloß Jungen aus der Nachbarschaft, standen also draußen in der Sonne.
Eine Gruppe von Kohlbäumen wuchs in der Mitte eines gelblichen Rasenstücks vor der Kirche. Da es wieder ein wolkenloser Tag war, wollten sich viele in den kärglichen Schatten stellen, den diese Bäume warfen. Der Gottesdienst dauerte lange, und diejenigen, die einen Schattenplatz ergattert hatten, bewegten sich mit dem Gang der Sonne möglichst unauffällig seitwärts, um niemandem ihre kühle Stelle abtreten zu müssen.
Wir waren alle da, außer Al Penny. Für seine Eltern war es ein festes Ritual, alljährlich am zweiten Weihnachtstag noch vor Sonnenaufgang zu ihrem Campingurlaub nach Kaiteriteri aufzubrechen. Al war sehr enttäuscht gewesen, die Beerdigung zu verpassen, und hatte uns
Weitere Kostenlose Bücher