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Rocking Horse Road (German Edition)

Rocking Horse Road (German Edition)

Titel: Rocking Horse Road (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Nixon
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sie nie so hübsch werden wie Lucy. Darin stimmten wir später alle überein. Carolyn war blaß wie ihre Mutter, doch hatte sie große Sommersprossen um den Nasenrücken herum. Wir sahen, daß Carolyn die Sonne nicht vertrug. Sie war groß (das hatte sie von ihrem Vater), zu groß fast für ein Mädchen, das von Jungen für attraktiv gehalten werden wollte. Ihre Brust war flach, die Beine waren lang und dürr. »Schlaksig« war ein Wort, das die Leute häufig auf Lucys kleine Schwester anwandten.
    Doch wie sie an diesem Tag hinter ihren Eltern und dem Sarg ihrer Schwester herging, durch das Menschenspalier hindurch, das lenkte unsere ganze Aufmerksamkeit auf sie. Es war, als sähen wir sie zum ersten Mal. Zum einen trug sie ein schwarzes Kleid, das für Trauerkleidung entschieden zu kurz war. Ihre Schenkel waren kaum stärker als ihre Waden, doch sie waren deutlich zu sehen. Sie bewegte sich wie eine neugeborene Giraffe, die Schwierigkeiten mit ihrer Höhe hat. Zum anderen aber fiel uns auf, daß sie ihr Kinn hoch trug und den Leuten um sie herum unerschrocken in die Augen sah. Bald schon merkten wir, daß sich ihr prüfender Blick auf einzelne Männer richtete. Männer jeden Alters begegneten diesem Blick und sahen rasch weg. Wo sie auch hinsah, es war überall dasselbe; es breitete sich von Mann zu Mann aus wie eine Welle.
    Als sie an uns vorüberkam, sah sie Jim Turner an. Vielleicht hielt sie ihn für älter als fünfzehn, weil er so groß war. Jim hielt ihrem Blick eine Sekunde stand, dann sah auch er zu Boden. Als er wieder hochsah, waren Carolyns Augen weitergewandert.
    Jim sagte uns gleich nach der Beerdigung, daß Carolyns Blick ihm angst gemacht hatte.
    »Wieso denn?«, fragten wir ihn.
    »Er war wie elektrisch, wie wenn man plötzlich an einen Elektrozaun faßt.« Er schwieg, als er unsere Skepsis spürte, und versuchte es dann anders: »Oder im Zoo, wenn man ein wildes Tier anschaut, einen Löwen oder so in seinem Käfig.« Er schüttelte den Kopf, er wußte, als Erklärung taugte das nicht.
    »Elektrisch« oder nicht – eines hatten wir alle begriffen, als wir Carolyn anschauten, wie sie mit hocherhobenem Kopf hinter dem Sarg ihrer Schwester herging und ihre langen weißen Beine unter ihrem Kleid hervorkamen: Es war überwältigend.
    Lucys Sarg wurde zum Leichenwagen getragen. Die Hecktüren standen schon offen. Die drei verbliebenen Ashers traten zurück und schauten, wie die Sargträger das eine Ende des Sargs vorsichtig auf die Rollen absetzten. Nur ein vereinzelter Möwenschrei begleitete die Szene. Die Menge schwieg. Lucys Sarg glitt, von den Onkeln und Cousins geschoben, glatt und lautlos in den Leichenwagen. Der Bestattungsunternehmer wartete einen Moment, ein paar Herzschläge, die nur er hören konnte, und schloß dann die Türen mit einem dumpfen Schlag.
    Mit fünfzehn wußten wir noch nicht, daß es Augenblicke gibt, die ein Leben in »davor« und »danach« teilen; Ereignisse, auf die Menschen zurücksahen als Tor zu etwas Neuem, einem neuen Leben, neuen Lebensabschnitten, manchmal besser, aber oft auch schlechter.
    Wir alle haben solche Momente erlebt in den fast dreißig Jahren seit Lucys Begräbnis: das Telefonläuten in der Nacht, das den Tod eines Elternteils anzeigt, die umgeworfene Lampe oder zugeschlagene Tür, die das Ende einer Ehe markiert; sogar so etwas Alltägliches wie ein Streit mit einem unserer heranwachsenden Kinder, bei dem man etwas gesagt hat, was man nie wieder ganz zurücknehmen kann. Später sind diese Meilensteine eher medizinischer Art. Eine gerissene Sehne. Ein Bandscheibenvorfall, der nicht richtig heilt, eine Blutuntersuchung, die zu einem sofortigen Termin bei einem sehr ernsten Hausarzt führt, und eine Diagnose, die einen wie ein Keulenschlag trifft.
    Weder wir noch, wie wir heute vermuten, die Ashers wollten sich das damals eingestehen, aber dieser kurze Gang von der Kirche zum Leichenwagen bildete das Tor zu einem kargeren Land – und nicht nur für die Ashers, auch wenn sie am stärksten betroffen waren. Es war ein Wendepunkt für uns alle, die auf The Spit lebten. In diesem Moment traten wir in eine Landschaft ein, aus der es, wie die Ereignisse der Zukunft zeigen sollten, keinen Rückweg gab.

Zwei
    In den Tagen nach der Beerdigung herrschte im Milchgeschäft der Ashers viel Betrieb. Zwar hing das Schild »Geschlossen« an der Ladentür, aber Leute kamen und gingen in einem beständigen Strom durch die hintere Tür, vom Vormittag bis nach Einbruch der

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