Rocking Horse Road (German Edition)
gebeten, ihm das Blatt mit dem Gottesdienstablauf für unsere Ausschnittsammlung aufzuheben.
Die Stimme des Pfarrers klang blechern durch die Lautsprecher. Er klang wie der Ansager auf einem Viehmarkt. Er zählte die Stationen von Lucys Leben auf, als redete er über ein preisgekröntes Kalb, erwähnte die Art ihres Todes nur ein einziges Mal. Und auch da sprach er nur von den »tragischen Umständen von Lucys Tod« und rief auf zum »Gebet für Gerechtigkeit, aber auch für Vergebung für die zweifellos gepeinigte Seele desjenigen, der diese Tat begangen hat«. Das kam bei den Leuten, die mit uns draußen standen, gar nicht gut an. Ein dumpfes Murren erhob sich. Wut zitterte in der Luft über unseren Köpfen.
Als der Pfarrer geendet hatte, traten noch andere Redner ans Mikrophon, darunter Lucys Onkel (Bruder ihrer Mutter) und zwei Schulfreundinnen. Keines der Mädchen konnte zu Ende lesen, was sie vorbereitet hatte. Wir sahen beklommen zu Boden, als wir sie schluchzen hörten. Durch die Lautsprecher klang es wie die Schreie exotischer Vögel, die in der Kirche eingesperrt waren. Später wurde gesungen, doch es war komisch, im Freien zu stehen und zu singen, es sei denn bei einem Spiel der Rugbynationalmannschaft, um die All Blacks anzufeuern.
Gegen Ende des Gottesdienstes gelang es Pete Marshall, in die Kirche zu schlüpfen, doch er kam schon bald wieder raus. Er hatte es nur bis ganz ans Ende des Mittelschiffs geschafft, dort standen die Leute vier Reihen tief hinter der letzten Bank. Von da hatte er nicht einmal den Sarg sehen können und nur einen ganz flüchtigen Blick auf den Pfarrer erhascht. Sonst sah er nichts als die Rücken schwarzer Jacketts und die Hüte schluchzender Frauen, die zitterten wie in einem starken Luftzug.
Wir sahen die verbliebenen Ashers erst, als der Sarg herausgetragen wurde. Am Ende des Gottesdienstes teilten sich die Menschen draußen. Wir bekamen eine Ahnung davon, wie es wohl ausgesehen haben muß, als Moses das Rote Meer teilte. Die Leute bildeten eine breite Gasse vom Kirchenportal bis zu dem Ort, wo der Leichenwagen mit dem Heck zur Kirche parkte. Zufällig standen wir am inneren Rand der Menge und hatten einen freien Blick.
Die Sargträger waren zwei Onkel und vier ältere Cousins von Lucy. Sie schauten streng geradeaus, als sie in der Türöffnung erschienen, gingen langsam auf den Ausgang zu, den Sarg in Hüfthöhe. Die Ashers kamen hinter ihnen; Mr. und Mrs. Asher zuerst, Lucys Schwester Carolyn hielt sich dicht hinter ihrer Mutter, wie ein Schatten.
Mrs. Asher war makellos gepflegt, wie immer. Alle starrten sie an, als sie im Eingang der Kirche erschien. Sie blieb oben an den drei Stufen, die vom Portal hinabführten, stehen, blinzelte und erhob dann die Hände und umschloß ihr Gesicht, als wollte sie ihre Gesichtszüge daran hindern, runterzufallen. Normalerweise war sie schon blaß, doch bei Lucys Beerdigung wirkte ihre Haut völlig blutleer. Wüßte man es nicht besser, mußte man glauben, daß Mrs. Asher ihr Milchgeschäft nie verlassen und ihr Gesicht nie der Sonne ausgesetzt hatte.
Im Unterschied zu seiner bleichen Frau war Mr. Asher sonnengebräunt. Während Mrs. Asher das Geschäft führte, besserte er das Familieneinkommen mit Bauarbeiten auf, meist Renovierungen und Reparaturen, oft arbeitete er dabei im Freien. Er war ein großer, schweigsamer Mann mit tief gefurchter Stirn. Wenn wir ihn doch einmal lächeln sahen, lief eine langsame Welle der Veränderung über sein Gesicht. Die hohe Wölbung seiner Stirn über den Augenbrauen glättete sich, und wir entdeckten weiße Linien, wo die Sonne nicht hingekommen war. Als er jetzt neben seiner Frau stand, hob er seine große Hand, um seine Augen gegen die Sonne abzuschirmen.
Der Sarg setzte sich langsam in Bewegung, und Mr. und Mrs. Asher folgten ihm die Stufen hinab. Sie schritten zwischen den Wänden schweigender Menschen hinter dem Sarg her. Mrs. Asher wandte den Blick zu Boden, die Hände hielten noch immer ihr Gesicht fest. Mr. Asher furchte die Stirn noch tiefer als gewöhnlich. Er schaute über die Köpfe der Menge hinweg, als hätte er am Horizont etwas Interessantes entdeckt, einen aufgeregten Möwenschwarm oder eine ungewöhnlich geformte Wolke. Mancher in der Menge wandte gar den Kopf, um seinem Blick zu folgen. Mr. Asher schien die Lage, in der er sich befand, geradezu peinlich zu sein.
Carolyn Asher war es, die uns am meisten beschäftigte. Unsere Blicke konzentrierten sich auf sie. Sicher würde
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