Rocking Horse Road (German Edition)
Dunkelheit. Polizisten waren die häufigsten Besucher, wie schon seit dem Morgen, als Pete Lucys Leiche entdeckt hatte. Die Kriminalbeamten waren in der Regel große kräftige Männer in zerknitterten Anzügen, die eine Aura von Entschiedenheit um sich verbreiteten. Verwandte kamen und auch Nachbarn. Der Pfarrer des Trauergottesdienstes machte in der ersten Woche mehrere Besuche, der Bestattungsunternehmer ebenfalls.
Fast ausnahmslos blieben die Besucher draußen kurz stehen, mit der Hand auf der Klinke der Gartentür, als wollten sie sich einen Moment gönnen, um einzuüben, was sie gleich sagen würden. Dann öffneten sie die Tür und gingen hinein. Außer den Polizisten und dem Bestatter hatten fast alle einen Korb oder eine Platte mit Essen bei sich. So viel Essen wurde ins Haus getragen, daß wir annahmen, die Ashers könnten mühelos einen Monat von Muffins und Pancakes leben.
Wir beobachteten das alles von Tug Gardiners Zimmer aus. Das Haus seiner Eltern lag fast genau gegenüber auf der anderen Straßenseite. Tugs Zimmer war ein Anbau, ein holzverkleideter Kasten, den man auf das Wohnzimmer aufgesetzt hatte. Er sah aus wie einer dieser im Krieg gebauten Geschützstände, als man meinte, die Japaner würden jeden Augenblick am Strand landen. Von Tugs Zimmer aus konnte man im Osten das Meer sehen, und in der anderen Richtung hatten wir einen freien Blick auf den Laden der Ashers. Wir erreichten das Zimmer über eine steile Treppe, fast eine Leiter. Wie die Affen kletterten wir hoch, hielten uns immer an der nächsten Stufe fest.
Der Boden war voller Socken und Sweatshirts und anderen Kleidungsstücken, die dort lagen, wo Tug sie fallen gelassen hatte, zwischen Kassetten, vergessenen Schulbüchern, Schmierpapier, halbgegessenen Broten und zusammengeknüllten Papiertaschentüchern – der Schutt von Tugs Leben. Wir gaben keinen Kommentar dazu ab, tatsächlich nahmen wir kaum Notiz davon. Tugs Zimmer sah so aus wie alle unsere Zimmer. Die Wände waren tapeziert mit Fotos der All Blacks. Da hingen die pfeilschnellen Außendreiviertel Stu Wilson und Bernie Fraser, und die harten Männer im Gedränge Haden und Dalton. Und natürlich Fotos und Zeitungsausschnitte von unserem Lokalmatador, Schlußmann Robbie Deans.
Unter den Augen unserer Helden schauten wir rüber zu den Ashers. Sie hatten ein ziemlich gewöhnliches eingeschossiges Steinhaus, aber Mr. Asher hatte einen Anbau angefügt, der bis zum Gehweg reichte, mit großen Schaufenstern voller Werbeplakate und einer Ladentür mit lautem Summer. Die gesamte Vorderfront des Hauses – wo ursprünglich das Wohnzimmer und ein Schlafzimmer gewesen sein mußten – war zum Laden umgebaut. So blieb den Ashers nicht viel Platz zum Wohnen, lediglich eine Küche und zwei kleine Schlafzimmer auf der Rückseite des Hauses. Uns wurde klar, daß neben dem Laden kaum genügend Platz für eine vierköpfige Familie war. Vor Lucys Tod mußten die vier Ashers wie Flipperkugeln darin herumgeschossen sein. Die meisten Leute unserer Gegend kauften hier ein, aber selbst wir Fünfzehnjährigen wußten bereits, daß man mit Wundertüten, Zeitungen, Milch und Brot nicht reich wurde. Und die beliebten Eiswaffeln waren ein Saisongeschäft.
Die langen heißen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr bis in den Januar hinein verbrachten wir damit, durch Ferngläser über den Asphalt der Rocking Horse Road zu starren. Das Schild »Geschlossen« blieb an Ort und Stelle, und der anfängliche Strom von Besuchern wurde allmählich zu einem Tröpfeln und brach in der zweiten Januarwoche ganz ab. Mitte des Monats kam nicht einmal mehr die Polizei.
Der einzige, der in diesen Tagen einigermaßen regelmäßig kam und ging, war Mr. Asher. Jeden Morgen um 9 Uhr fuhr er weg und kam um 17:30 Uhr wieder. Wir wußten nicht, wohin er fuhr. Wir wollten ihm folgen, hatten aber nicht die Möglichkeit dazu; keiner von uns besaß einen Führerschein. Sein alter Pickup transportierte ihn über den Radius unserer Fahrräder hinaus. Wir nahmen an – fälschlich, wie sich später herausstellte –, er ginge irgendwohin zur Arbeit.
Mrs. Asher und Carolyn tauchten selten auf. Uns schienen sie wie Fische in einem trüben Aquarium, die man nur manchmal sah, wie sie in traurigen Kreisen durch das Dämmerlicht schwammen. Damals hielten wir das für ein angemessenes Verhalten, wenn man in Trauer war.
Wir waren nicht die einzigen, die ein Auge auf die Ashers hatten. Auf der Rocking Horse Road beobachtete jeder jeden –
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