Römer im Schatten der Geschichte
in den Amphitheatern. Das Leben in einer unverrückbar stratifizierten Welt bewirkte bei den Mittelständlern eine der Grundeinstellungen, die ein solches Dasein prägen: Behandle Gleiche als Gleiche; die unter dir Stehenden nutze, wenn möglich, aus; den über dir Stehenden beuge dich immer. Der Sinn des Einzelnen war darauf gerichtet, einer sei es physischen oder psychischen Verletzung zu entgehen, anderen hingegen Verletzungen zuzufügen – in römischen Begriffen: Man verteidigte seine Ehre und Stellung, indem man die Ehre und Stellung anderer beschnitt und zugleich die eigene vor einer Schmälerung durch die, welche als niedrig Gestellte galten, zu schützen suchte. Unterwerfung unter einen Geringeren oder Anpassung an eine Gruppe unter dem eigenen Stand (z. B. Sklaven) war, ob gedacht oder getan, für den Höherrangigen ein Bild des Schreckens. Die Stellung der offensichtlich Höherrangigen (Elite) und der offensichtlich Inferioren (Sklaven) war klarer definiert als die des Normalbürgers, in dessen Gruppe Macht und Status kolossale Unterschiede aufwiesen. Doch fehlten klare Merkmale einer »legitimen« Unterordnung oder Vorrangstellung, so dass gerade diese Welt intensiv von Ehrverletzungen, Feindseligkeiten und Rivalitäten geprägt war.
Hierarchisches Denken drückt der Vorstellungswelt jeder sozialen Gruppe seinen Stempel auf, indem es bestimmte Erwartungen und Stereotypen schafft. Die normalen Bürger waren keine Ausnahme. Wissenschaftler haben fünf der meist verbreiteten Vorurteile ausgemacht: gegen Freigelassene, gegen die Armen, gegen Kaufleute und gegen die Arbeit. Es lohnt sich, jedes davon mit dem geistigen Auge normaler Bürger zu prüfen.
Frei geboren zu sein war der grundsätzlich bevorzugte Status; erbrachte keine rechtlichen Verpflichtungen und keine der Einschränkungen mit sich, wie sie Sklaverei und Freilassung auferlegten. Die große Mehrheit der freien Bevölkerung bestand zu allen Zeiten aus Freigeborenen, denn der rechtliche Status der Freigelassenen war mit deren Generation erloschen. Es ist klar, dass die Elite den Freigelassenen, die den Anspruch erhoben, sich ihres sozialen oder ökonomischen Kapitals zu bemächtigen, starke Vorurteile entgegenbrachte. Für die verbreitete Annahme, dass die Voreingenommenheit der Elite gegenüber den Freigelassenen in allen Segmenten der frei geborenen Gesellschaft verbreitet war, gibt es allerdings nur wenig Beweise. Das Thema kommt im Kapitel über die Freigelassenen ausführlich zur Sprache. Doch das Vorurteil gegenüber den Armen war zweifellos real. Das Graffito auf einer Wand in Pompeji fasst es zusammen:
Ich verabscheue die Armen! Wer auch immer etwas umsonst erbittet, ist ein Holzkopf. Erst zahlen, dann kriegt er die Ware. (
CIL
IV 9839 b/Hunink, Nr. 113)
Auch der neutestamentliche Jakobusbrief weist unzweideutig auf das Bestehen dieses Vorurteils hin, und sein Autor stellt es im Kontext der christlichen Gemeinschaft als verwerflich dar:
Liebe Brüder, haltet nicht dafür, daß der Glaube an Jesum Christum, unsern Herrn der Herrlichkeit, Ansehung der Person leide. Denn so in eure Versammlung käme ein Mann mit einem goldenen Ringe und mit einem herrlichen Kleide, es käme aber auch ein Armer in einem unsaubern Kleide, und ihr sähet auf den, der das herrliche Kleid trägt, und sagtet zu ihm: Setze du dich her aufs beste! und sprächet zu dem Armen: Stehe du dort! oder: Setze dich her zu meinen Füßen! ist’s recht, daß ihr solchen Unterschied bei euch selbst macht und richtet nach argen Gedanken? (Jakobus 2,1 – 4)
Starke Ressentiments vonseiten der gewöhnlichen Bevölkerung bestanden auch gegenüber den Sklaven. Das zeigen die Botschaften des Apostels Paulus an die verschiedenen Gruppen der Christen: Immer wieder betont er seine ablehnende Haltung gegenüber dem fundamentalen Unterschied, der in der Gesellschaft zwischen Freien und Sklaven besteht. Die wiederholten Erwähnungen sind ein Hinweis darauf, dass alte Vorurteile zäh haften – seine Adressaten taten sich offenbar schwer damit,ihre Sklaven weniger voreingenommen zu behandeln, und die Ermahnung blieb oft folgenlos. Ein weiteres Beispiel für die Kluft zwischen Freien und Sklaven bietet der Roman
Asinus aureus (Der goldene Esel)
des Apuleius: Lucius’ Verwandlung in einen Esel und schließlich seine Rückverwandlung in einen Menschen liest sich leicht als allegorische Reise aus der Freiheit in die Sklaverei und zurück. Alle seine Abenteuer zeigen, wie
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