Römischer Lorbeer
ohne Manneskraft geblieben waren, nahm sie, den
Erdboden mit noch frischem Blut befleckend, eilends mit
schneeweißen Händen das leichte Tamburin, dein Tamburin,
Cybele, dein Gerät der Einweihung, Mutter! Und indem sie das
hohlklingende Stierfell mit zarten Fingern schlug, begann sie
erbebend, ihren Gefährtinnen folgendes zu
singen:
»Wohlauf,
zieht allzumal zu den hohen Hainen der Cybele, ihr Gallae, zieht
allesamt, ihr schweifenden Schafe der Herrin von Dindyma, die ihr,
Verbannten gleich, nach fremden Orten strebt, als meine
Begleiterinnen die raffgierige Salzflut erduldet habt und alle
Grausamkeit der See, dann eurem Leib entmanntet in
überschwenglichem Haß auf Venus: Erfreut der Herrin
Herz, indem ihr rastlos schweift!«
*
Es war ein langes,
seltsames Gedicht. Manchmal wurde es zu einem Gesang und der
Dichter zu einem Tänzer, der sich mit dem Körper hin und
her wiegte und mit den Füßen aufstampfte, angetrieben
von dem Rhythmus, der ihn beherrschte. Das Publikum lauschte
gebannt.
Es war die Geschichte
von Attis und seinem Wahnsinn, der ihn in einer dunklen Nacht weit
von zu Hause fort in einen dunklen Wald trieb, wo er sich selbst
kastrierte und sein Dasein der Großen Mutter Kybele weihte.
Noch immer blutend rief er die Anhänger der Göttin
zusammen und führte sie in einer wilden, ekstatischen
Prozession die Hänge des Ida hinauf bis zu ihrem Tempel. Sie
stimmten schrille Gesänge an, schlugen Trommeln und Zymbeln,
wirbelten, angeführt von Attis, in wilden Tänzen umher,
bis sie schließlich erschöpft in einen tiefen traumlosen
Schlaf sanken.
Als Attis erwachte,
war sein Wahnsinn verflogen. Er sah, was er getan hatte, und war
entsetzt. Er rannte zur Küste, starrte auf den Horizont und
bereute, sein Heimatland je verlassen zu haben. Als Junge war er
der Held aller athletischen Spiele gewesen, ein preisgekrönter
Läufer und Ringer. Mit seinem Bart wurde er zum angesehensten
Mann seiner Heimatstadt, bekannt und begehrt. Und was war er jetzt?
Ein Schiffbrüchiger, der nie wieder heimkehren konnte, weder
Mann noch Frau, ein Schatten seines früheren Selbst,
unfruchtbar, elend und einsam. Seine fanatische Hingabe hatte ihn
von allem entfremdet, was ihm einmal lieb und teuer gewesen war,
hatte ihn alles gekostet, sogar seine Männlichkeit.
Oben auf dem Berg
hörte Kybele sein erbärmliches Klagen. Sie blickte hinab
und sah Attis am Strand weinen. Erbarmte sie sich des Attis, oder
tat sie einfach das Notwendige, als sie ihren Löwen zum Strand
hinunterschickte, um ihn endgültig in den Wahnsinn zu treiben?
Klaren Kopfes war er zu elend, sein Leben der Lobpreisung der
Kybele zu widmen, doch zu welchem anderen Leben wäre er in
seinem entmannten Zustand fähig gewesen? Also fegte der
brüllende Löwe die Hänge hinab und trieb Attis
zurück in den Wald, zurück in den Wahnsinn und die
geifernde Ekstase, zurück in ein Leben loyaler und
geschlechtsloser Sklaverei in Diensten der Großen
Mutter.
Catull schauderte, als
ob das Gedicht ihn langsam wieder loslassen würde. Seine
Stimme wurde leiser, bis die letzten Verse kaum noch zu hören
waren:
»Große
Göttin du, Kybele, Herrin auf dem Dindymos, Bleib dein
Wahnsinn, Herrin, fleh ’ ich, meinem Hause immer
fern!
Andre reize auf und
jag sie, andre stürz in Wildheit du!«
Catull war wie
verwandelt. Als er die Bühne erklomm, hatte er ausgesehen wie
ein Mann, der von Wein und Selbstmitleid betäubt war, schwach
und unsicher. Jetzt wirkte sein Gesicht ausgezehrt, und seine Augen
leuchteten wie die eines Mannes, der eine grausame Tortur
überstanden hat und auf das Wesentliche seines Selbst
reduziert worden ist. Beim Verlassen der Bühne stolperte er
ein wenig, nicht wie ein Betrunkener, sondern wie ein Mensch, aus
dessen Körper alle Kraft gewichen war.
Der Garten war still.
Um mich herum bemerkte ich hochgezogene Brauen, unsicheres
Stirnrunzeln, nachdenkliches Nicken und Grimassen des Ekels. Clodia
saß dicht bei der Bühne und blickte starr auf die
Stelle, wo Catull eben noch gestanden hatte. Ihre Miene war
ausdruckslos. Hielt sie das Gedicht für eine Huldigung oder
eine Beleidigung ihrer Person? Oder erkannte sie sich nicht wieder
im Hymnus eines jungen Mannes, der von unentrinnbarer Besessenheit
und dem Verlust von Würde und Freiheit durch eine
überwältigende Leidenschaft und der ungleichen und
katastrophalen Vereinigung eines bloßen Sterblichen mit einer
distanzierten und gleichgültigen Göttin
handelte?
In meinem Rücken
vernahm ich ein
Weitere Kostenlose Bücher