Roen Orm 3: Kinder des Zwielichts (German Edition)
überschattet wurden, als Schmerz und Entsetzen Eivens Züge verzerrte. Jener Teil betete darum, Eiven möge anfangen zu betteln, zu flehen, dass es endlich enden sollte. Er wollte das Stöhnen nicht hören, von Opfer und Täter. Er wollte nicht sehen, was Nalvat dort tat ...
Jener Teil wollte die Tränen fortwischen, die über die hellen Wangen rannen. Wollte gemeinsam mit Eiven weinen, als Nalvat befriedigt abließ und der nächste an seine Stelle trat. Doch dieser Teil seiner Seele lag verschüttet unter eisiger Gefühlskälte und dumpfem Hass, über zu viele Jahre genährt. Also hielt Misham das Messer, bereit, Eiven zu töten, sobald dieser endlich aufgab.
Misham war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu sehen, dass Eiven in dieser Haltung nicht einmal schreien, geschweige denn sprechen konnte; und da nur Misham selbst es wagte, in Eivens Gesicht zu blicken gab es niemanden, der ihn darauf aufmerksam machen konnte, was die stummen
Lippenbewegungen und das qualvolle Wimmern seines Bruders vielleicht bedeuten konnten.
5.
„ Ist es Gnade oder Grausamkeit, ihn lebendig zu belassen?“
Zitat aus: „Die letzten Tage des Königs“, Drama, uraufgeführt in Roen Orm, 2990 n. Gründung der Stadt
Zitat von P’Maondny, Traumseherin der Elfen
Niyams Geduld war fast am Ende. Seit zwei Tagen lauerte er Misham auf, aber der Junge und seine getreuen Anhänger waren zu geschickt darin, ihre Spuren zu verwischen. Niyam war sich absolut sicher, Misham wusste, was mit Royas jüngerem Sohn geschehen war. Die Blicke und geflüsterten Worte zwischen dem Krieger und Fanven waren ihm nicht verborgen geblieben. Allzu eifrig waren die Jugendlichen dabei, nach Eiven zu suchen, den sie doch so offensichtlich hassten – warum wunderte sich niemand, dass es von ihnen keine offenen Proteste gab? Waren denn alle hier so blind? Erkannten sie den Hass nicht, den Fanven hegte? Der auch Misham auffraß?
Laremo stand kurz davor, Botschafter zum benachbarten Clan zu schicken und dort zu fragen, ob man Eiven gesehen hatte. Eine solche Frage konnte den fragilen Frieden zerstören, denn sie beinhaltete die Anschuldigung, dass man die andere Sippe für fähig hielt, einen fremden Krieger zu verletzen oder zu töten. Eine Fehde wäre das Letzte, was sie jetzt brauchten, mit so viel Uneinigkeit und Unfrieden in ihrer eigenen Mitte.
Gerade, als Niyam sich selbst überzeugt hatte, es weiter südlich versuchen zu müssen, hörte er plötzlich Stimmen, und eine Gruppe Jugendlicher schoss vor ihm in den Himmel.
„Wir hätten das sofort versuchen sollen, Misham, das war Spaß!“
Eigentlich hatte Niyam vorgehabt, sich einen der Jungen zu schnappen und als Geisel zu nehmen, bis die anderen ihm verrieten, wo Eiven versteckt war. Doch als er sie so zusammen sah, begriff er seinen Denkfehler. Er war lange Jahre fort gewesen. Den kleinen Misham, dem er gezeigt hatte, wie er den Speer werfen musste, gab es nicht mehr. Diese zehn jungen Männer waren ausgewachsene Krieger. Einen von ihnen mochte Niyam möglicherweise überwältigen können, alle gewiss nicht.
Zum Glück hatten sie ihn nicht gesehen. Möglicherweise hatten sie Spuren hinterlassen, denen er folgen konnte?
Rasch landete Niyam auf dem Waldboden und begann, systematisch zu suchen. Als es dunkel wurde, wollte er aufgeben. Es gab zu viel Unterholz, zu viel ineinander verwobenes Gesträuch, doch da hörte er etwas. Einen erstickten Laut, ganz in der Nähe.
„Eiven?“ Verwirrt sah sich Niyam um, wo konnte man hier einen erwachsenen Mann versteckt halten? Da war das Geräusch wieder, ein gedämpftes Stöhnen. Hätte Niyam nicht zufällig auf die undurchdringliche Wand aus Dornen, Kletten und Hopfenschlingen gestarrt, wäre er an Eivens Versteck vorbei gelaufen und hätte ihn niemals gefunden. So aber stolperte er durch den nahezu unsichtbaren Eingang und sah, was Misham und dessen Freunde getan hatten. Er presste die Faust gegen den Mund, biss rücksichtslos auf seine eigenen Knöchel, um nicht laut zu brüllen vor Wut und Entsetzen. Das elende Geschöpf, das dort gefesselt hing, überströmt von Blut, war ein Anblick, den Niyam kaum ertragen konnte. Er war an Eivens Seite, bevor er auch nur daran dachte, sich zu bewegen und kniete vor ihm nieder. Hastig schob er die langen, blutverkrusteten Zöpfe zur Seite, um sich zu vergewissern, dass Eiven noch lebte. Die schwachen Atemzüge beruhigten ihn einerseits, erfüllten ihn andererseits mit Bedauern – für Eiven wäre es
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