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Röslein rot

Röslein rot

Titel: Röslein rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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auf seinem Nachtkasten zeigte seinen einzigen Sohn, den verstorbenen Malte.
    Ich hatte also einen toten Bruder und eine lebende Schwester, aber zu beiden keine positive Einstellung. Leider war es immer klar, daß ich den Jungen nicht ersetzen konnte. Als besonders schlimm empfand ich, daß man niemals über ihn und die Todesursache sprach. Heute erst erkenne ich, daß dieses Schweigen meine Kindheit zerstört hat.

    Als ich dann später selbst heiratete und schwanger wurde, stellte ich mir mein künftiges Kind stets wie jenes vor, dessen Bild auf dem Nachttisch gestanden hatte: ein blond-gelockter Engel mit verträumten Blauaugen. Doch so verträumt Malte auf dem Foto auch dreinblickte, die Zukunft des Stammhalters war genau vorherbestimmt: Malte war dazu ausersehen, Vaters Geschäft für Großküchenzubehör zu übernehmen. Als sich dann das Ersatzkind als Mädchen erwies, verkaufte mein Vater noch vor meiner Taufe sein Geschäft und verbrachte den Rest seines Lebens als Invalide. Kein Gedanke daran, daß auch seine Tochter einen kaufmännischen Beruf ausüben könnte. Mein Brüderchen wiederum hat sich durch seinen frühen Tod wohl allerhand Ärger erspart. Wenn ich mir sein feines Kindergesicht betrachte, dann kann ich mir gut denken, daß in Malte alles andere als kommerzielle Talente schlummerten.
    Zu diesen traurigen Erinnerungen kommt hinzu, daß meine häusliche Situation anders als die meiner Freundinnen war, deren Väter stets zuwenig Zeit für die Familie hatten. Mein Vater beeindruckte meine Klassenkameraden sowohl durch ständige Anwesenheit als auch durch absolutes Desinteresse. Die meisten meiner Freundinnen bekamen ihn fast nie zu Gesicht, wußten aber, daß man sich bei uns ruhig zu verhalten hatte - keine laut aufgedrehte Musik, kein Toben im Treppenhaus, kein Tanzen und Singen oder gar gackerndes Gelächter.
    Gelegentlich mußte ich Vater vorlesen, weil er nebst allen anderen Gebrechen auch noch über »müde Augen« klagte. Wenn ich ihn fragte, was er hören wolle, beteuerte er milde, das sei ihm egal. Also las ich aus Mädchen- und Tierbüchern vor, aus den Lurchi-Heften von Salamander und sogar aus Schulbüchern. Es ist die Frage, ob er je zugehört hat oder nur den Drang verspürte, mich an sein Bett zu fesseln. Aber wahrscheinlich war ich ihm genauso egal wie die Bücher.
    Neulich fragte ich meine Mutter, was das eigentlich für ein Mann gewesen sei, den sie da geheiratet habe. Sie sah mich mit äußerster Verblüffung an. Ich hätte ihn doch immerhin fünfzehn Jahre lang gekannt und müsse wissen, was für einen gütigen und verständnisvollen Vater ich hatte! Immerhin räumte sie ein, daß er oft unter Beruhigungsmitteln gestanden hatte, wodurch er wahrscheinlich eine gewisse Distanz zu den banalen Realitäten des Alltags bekam. Die reale Banalität war ich.
    Es gab eine Ausnahme, wo mir seine Gesellschaft ein wenig Spaß machte, und das waren die gelegentlichen Spielchen am Freitagnachmittag. Vater saß im Bett, ich zu seinen Füßen, Mutter war beim Friseur. Das schwenkbare Tablett diente als Tisch. Unsere Spiele waren von simpler Art, hießen >Schnipp-Schnapp< oder >Tod und Leben<, als ich etwas älter war auch >Stadt, Land, Fluß<; dazu aß ich Salzstangen und Nußschokolade, Vater trank Bier. Wenn Mutter kam, schimpfte sie regelmäßig über die vollgekrümelte Bettwäsche. Aber Vater nahm sowieso alle Mahlzeiten im Bett ein, verschüttete Kaffee, verstreute Asche, ließ fette Schinkenränder und Wurstpellen, Nußschalen und Käserinden einfach in den Falten seiner Steppdecke verschwinden. Obwohl dauernd frisch bezogen wurde, lockte dieses unhygienische Verhalten die Fliegen an, die bei uns weder in der Küche noch im Klo zu finden waren, sondern stets im Dunstkreis von Vaters Bett. So wie man Neptun mit einem Dreizack malt, so müßte man Vater mit einer Fliegenklatsche darstellen. Wenn ich - täglich einmal - an sein Bett trat und fragte: »Papa, wie geht's dir?«, dann bekam ich regelmäßig die Antwort, er sei des Lebens müde. Viel an Weisheit oder Wissen hat er mir nicht mitgegeben, aber des Genitivs war ich bereits mit fünf Jahren mächtig.

    Heute hätte ich vielleicht den Mut, die erste Frau meines Vaters zu besuchen und auszuhorchen, aber sie starb wenige Jahre nach ihm. Vor der Begegnung mit meiner Halbschwester Ellen, die ihn immerhin als gesunden Papa erlebt hat, fürchtete ich mich. Ich hätte es kaum ertragen können, wenn sie mir von einer unbeschwerten, fröhlichen

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