Röslein rot
erstickten unter einer Watteschicht. Ohne jemals persönliche Anteilnahme zu zeigen, waren meine Eltern professionell gütig zu mir.
Der Alptraum vom verwahrlosten Säugling ist fast allen Müttern bekannt: Mit einem entsetzlichen Schrecken erinnern wir uns, daß es in einer finsteren Kammer ein Baby gibt, für das wir verantwortlich sind und das wir einfach vergessen haben. Ist es tot? Es hat über Tage keine Nahrung bekommen, wurde weder gewindelt noch geherzt. Wenn wir es schließlich hochheben, gibt es nur noch schwache Lebenszeichen von sich, und wir erwachen tränenüberströmt. Als ich Silvia, einer entfernten Verwandten von mir und - seit sie hierher gezogen ist, die dritte in unserem Freundschaftsbund - diesen Traum erzählte, winkte sie gleich ab: Schon hundertmal in allen Variationen geträumt. Aber ich wollte ihr klarmachen, daß ich nicht etwa eine Rabenmutter bin, die bis in den Schlaf von Gewissensbissen verfolgt wird, sondern daß mein Unterbewußtsein eine Botschaft aussendet: Das verkümmerte Kind bin ich selbst. Wie viele andere Frauen habe auch ich über Jahre oder gar Jahrzehnte nur an die Familie gedacht und mich selbst vernachlässigt. Das halbtote Baby muß jetzt mit aller Liebe gepäppelt und umsorgt werden, sonst ist es vielleicht zu spät.
Silvia staunte. »Glaub' ich dir nicht! Typisches Geschwätz von Hobby-Psychologen, ich kann mir schon denken, daß dir Lucie so etwas einbläst! Als ob nicht jeder ein schlechtes Gewissen gegenüber seinen Kindern hätte! Denen kann man es doch nie recht machen.«
Ich schwieg. Meinen anderen Traum mochte ich ihr gar nicht erst erzählen, denn sie kam selbst darin vor:
Wir stehen im Badezimmer vorm Spiegel und probieren eine neue Frisur aus, während ich mein jüngstes Kind in einer Zinkbadewanne planschen lasse. Wir schimpfen über unsere Schwiegermütter, trällern zur Musik aus dem Radio, schnuppern an meinem neuen Parfüm. Als ich nach dem Baby schaue, ist es schon lange untergetaucht. Mein Herz setzt aus, ich reiße das Kleine in die Höhe - kein Atem -, packe es an den Beinen und versuche, das Wasser aus seiner Lunge laufen zu lassen. Es strömt und strömt aus dem winzigen Mund. Schließlich treten Organe aus. Herz, Leber und Niere fallen ins Badewasser. Silvia sammelt alles auf und wirft die blutigen Klümpchen ins Klo. Ich wache schreiend auf.
Silvia schien nicht zu bemerken, welch düsteren Gedanken ich nachhing - wohl vor lauter Wut, weil sie in einem ausrangierten Koffer die Fotosammlung ihres Mannes entdeckt hatte. Vergeblich versuchte ich ihr klarzumachen, daß man Pornos in fast jedem Haushalt finden kann. Aber ich verstand sie gut, denn auch ich war während meiner Ehe schon einmal auf unangenehmes Treibgut gestoßen.
Wahrscheinlich reifte damals in mir der Entschluß, die Angstträume zu verbannen und endlich das halbtote Kind in mir wieder zum Leben zu erwecken. Für Silvia war dieses Problem leichter zu lösen, denn ihre Liebe galt seit vielen Jahren den Pferden. Als Mädchen war sie eine begeisterte Amazone gewesen, und nun sattelte sie dieses Steckenpferd aufs neue. Jeden Vormittag, wenn ihre Kinder in die Schule mußten, war sie in der Reithalle zu finden. Ich nahm an, daß sie sich für diese Sportart entschieden hatte, weil die Natur sie bereits mit dem sogenannten Reithosenspeck ausgestattet hatte. Es gelang ihr jedoch nicht, mich zu ihrer Passion zu bekehren. Ich bin reichlich unsportlich und wollte es lieber mit etwas Kreativem versuchen.
Reinhard, mein Mann, hatte nach dem Realschulabschluß eine Schreinerlehre absolviert, dann die Fachhochschulreife nachgeholt und schließlich Architektur studiert. Von seiner Lehrzeit sprach er mit Ernüchterung, da er monatelang nur Türen aus Rüster abhobeln mußte, wo sein Herz doch für Eichenbohlen schlug.
In seinem späteren Beruf kam es ihm aber durchaus zugute, daß er etwas von Holz verstand. Seit wir ein eigenes altes Häuschen besaßen, konnte er seine Visionen in Szene setzen: die Balken des Fachwerks freilegen und restaurieren, originalgetreue Sprossenfenster herstellen und tagelang Pläne für die Neugestaltung des Dachbodens entwerfen.
Es gibt wenig Architekten, die meiner Meinung nach einen guten Geschmack haben, mein Mann gehört sicherlich nicht zu dieser Minderheit. Was er in unserer Gegend verbrochen hat, kann man nicht so leicht übersehen. Es ist postmoderne Massenware billigster Art, die die innerstädtischen Baulücken flächendeckend füllt. Aber
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